Die Poesie des Biers. Jürgen Roth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jürgen Roth
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783941895478
Скачать книгу
eröffnet worden war, etwa Mitte der neunziger Jahre des verblaßten vergangenen Jahrhunderts. Das Verschwinden der Bahnhofsgaststätte, eines Raumes der Aufenthaltsmöglichkeit für allerhand unterschiedliche und angesichts ihrer Unterschiedlichkeit schlicht geduldete Leute, die rasten und Zeit überbrücken oder vergeuden konnten, ohne eine On-Top-Befindlichkeit des schikken Lifestylereisenden simulieren zu müssen, kündigte sich womöglich mit der rigiden Handhabung des Zugangs zu den Toiletten der Bahnhofswirtsstuben an. »Toilettenbenutzung nur für Gäste« hieß es zum Beispiel in München plötzlich, und wenig später war nicht nur der Zugang für Mißliebige, weil nicht Geldpotente gesperrt, sondern auch der Gaststättenraum zerstört.

      Im Sommer 2000 hatte man den alten Gaststättenbereich entkernt und abgerissen. Heute dominieren in allen großen Bahnhöfen die gläsern-rauchfreien, stahlblanken, strahlenden, blitzsauberen, meist keinem Sitzbedürftigen mehr Gelegenheit zum Verschnaufen bietenden Multifruchtsafttheken und Milchbars, die markenschreierischen Cafés Nescafé (wie in München) oder die systemgastronomischen Errungenschaften der worthöllisch anspielungsreichen Exklusivbierbuchten und Erfrischungsecken namens Connection BAR oder Kaffee mit … (wie in Frankfurt am Main). »Der Münchner Hauptbahnhof ist für viele Reisende das Eintrittstor zu Bayern«, deklamierte Bayerns Wirtschafts- und Verkehrsminister Otto Wiesheu angesichts der 12,3 Millionen Euro teuren Neugestaltung des Münchner Gastronomiebereiches begeistert. »Mit dem neuen Gastronomie-Highlight zeigt der Freistaat an prominenter Stelle, daß sein Gastgewerbe nicht nur Kultur hat, sondern selbst Teil der bayerischen Kultur ist.« Das Bayerische an dieser Kultur dürften die Brezen und Weißwürste sein, die nach wie vor verkauft werden.

      Rührig und schäbig zugleich mutet da an, wie sich etwa im Rosenheimer Bahnhof das neofolkloristisch aufgemotzte Servicekonzept einer breiten Angebots- und Stilpalette in einem Potpourri aus Markt-Backshop, Imbiß, Bierschwemme, Stadt-Terrasse, Südtiroler Stub’n und Luitpold-Stub’n niederschlägt. Letztere Einrichtung zumal erregt durch ein Edelkitschinterieur par excellence schlichtweg das blanke Grausen. Wilhelm Buschs Zeichnung »Die Mittagstafel in der Rosenheimer Bahnhofs-Restauration«, 1860 erschienen in den Fliegenden Blättern, hielt eine tumultuarische Riesenversammlung überschwenglich gestimmter Speisender fest, und vom ersten Pächter der Halleschen Hauptbahnhofswirtschaft, dem Ende des 19. Jahrhunderts segensreich wirkenden Gustav Riffelmann, ging die Kunde, er sei »eine stadtbekannte Persönlichkeit« »von imponierender Gestalt« und mit einer außergewöhnlichen »Großzügigkeit« ausgestattet gewesen. Bei dem ließ sich jeder, der dazumal, was nicht ungewöhnlich war, lange Wartezeiten erdulden mußte, gerne nieder. Heute will man allenthalben bloß noch weg.

      Bevor es ganz zu spät und die alte Bahnhofsgaststätte, eine Art Agora, ein Zentrum der zufälligen Zusammenkunft inmitten der Dynamik des Hin-und-weg, vollends hinwegsaniert ist, sei ein Halt in Würzburg empfohlen. Hier, in den Bürgerstuben im Bahnhof, sitzen sie noch, die alten Frauen aus der Stadt, die nicht reisen, aber Apfeltorte mit Schlagobers verspeisen, und die alten Männer aus der Gegend, die, wie Karl Kraus, die Öffentlichkeit brauchen, um einsam sein und ihr Bier trinken zu können.

      Stellwände teilen den Raum dezent auf, eine Messinguhr tickt, an der braungetäfelten Decke hängen Kugellampen, an den schmiedeeisernen Kleiderhaken graue Mäntel, daneben baumelt die örtliche Zeitung. Kellner Christofolos wandelt über braune Teppichläufer, die mit Metalleisten auf dem Linoleumboden befestigt sind, und verteilt überwiegend Bier. Wer hier einen Cappuccino trinkt, gehört dem Teufel.

      Links schmückt ein Panoramastich die Wand, rechts eine Butzenglasarbeit, die das seit langem vom Markt gefegte »Patrizier-Bräu Würzburg« bewirbt. Davor schaufelt ein Ehepaar Hacksteak und Pommes in sich hinein. Die meisten indes nippen lediglich am Bier und rauchen. Hier wird außerordentlich stark geraucht, eine Nichtraucherecke gibt es nicht. Man raucht Stumpen, Selbstgestopfte, HB, und man trägt bevorzugt Kordhose oder Trainingsanzug und auch mal eine Schiebermütze.

      Dr. Benn wäre auf einem der Holzstühle an einem der Tische gut aufgehoben gewesen, zu sich selbst beschwörend sagend: »das Bier heben, soliden Blicks, schaumgeboren – reiner Abendausklang«.

      Bier im Schuh

      Als ich vom Sportschwimmen die Nase voll und durch ebendiese genügend Chlor inhaliert hatte, wurde ich Handballer.

      Wir zogen vom gefährlich nah ans holländische Drogenzentrum Heerlen grenzenden Städtchen Brunssum zurück nach Deutschland. In St. Augustin, einer Bonner Schlafstadt, bezogen wir ein Klinkerhaus mit Glasbacksteinen als Toilettenfenstern.

      In diesem Haus konnte ich nicht den ganzen Tag herumhocken. Ich mußte etwas tun und auch mal raus. Ich meldete mich im Handballverein an, denn Handball hatte mir im Schulsport immer schon gefallen. Beim Handball wurdest du nicht als einzelner, als dem notengebenden Schleifer Ausgelieferter examiniert, wie etwa beim Pferdsprung oder beim Ringen an den Ringen, sondern du warst aufgehoben in einem Kollektiv, das dich agieren ließ, ohne dich zu traktieren. Handball in der Schule war Schulung gewesen – Schulung der Wahrnehmung, daß du nicht allein dein Dasein zu bezwingen verdammt bist, sondern daß du zwanglos, spielend einen Vertrag mit anderen darüber abschließt, sich gegenseitig zu unterstützen. Das ist wohl das respektabel Humane am Mannschaftssport, solange er nicht als Wettbewerbssport betrieben wird.

      Ich war also, endlich erlöst vom endlosen Kachelzählen, im Handballverein gelandet, und ich startete meine neue Karriere bravourös. Im dritten oder vierten Training brach ich mir den linken Ringfinger, weil ich ein Zuspiel nur mit einer Hand annahm, aber ich machte weiter, ich zeigte Härte. Ich biß den Schmerz hinunter und ließ mir nichts anmerken. Denn ich wollte spielen, an den Wettkampfsonntagen. Das war das Ziel.

      Ich erreichte mein Ziel, doch mit dem Erreichen des Ziels waren neue Ziele verbunden. Die neuen Ziele kündigten sich schon vor dem eigentlichen Ziel, dem Spiel, an. Schon vor dem Spiel, als man sich vor einer Sporthalle im Rhein-Sieg-Kreis traf, in der man gleich das so fiebrig erwartete Match zu bestreiten hoffte, sagten einem die Mitspieler, daß sie schon sehr gut, ja hervorragend »drauf« seien heute morgen.

      Doch, doch, man habe schon mal, heute sei ja Sonn- und Spieltag, ein, zwei Große gewuppt und sich von innen schön geölt, sagten der Lange, der Center, und der Kurze, der Dicke, unisono, das gehöre sich so. Wir standen vor dieser Halle, und ich war nervös. Der Lange und der Kurz-Dicke kicherten, sie demonstrierten eine Leichtigkeit, die mir ganz fremd war, mir, der von einem Fuß auf den anderen trat, weil ich ja doch endlich ein Spiel bestreiten wollte und mich bewähren mußte. Ansonsten, im Falle des Versagens, drohte »die Bank«.

      Doch, taktisch aufgetankt habe man schon mal, sagten die beiden. Der Trainer, ein untersetzter Metzger, fuhr vor, pellte sich aus seinem Auto und führte uns in die nach Bohnerwachs riechende Halle.

      Hinterher fragte ich mich oft, ob sie nicht auch in der Halbzeitpause irgendwo ein Großes zischten. Jedenfalls spielten der Lange und der Dicke in der zweiten Hälfte immer noch waghalsiger und befreiter auf als in der ersten. Bayern-Trainer Udo »Pilslatte« Lattek hatte ja seinem nervösen Fohlen Karl-Heinz Rummenigge vor dem Anpfiff öfter mal einen Cognac verordnet und einpfeifen lassen. Was dem Fußballer der Schnaps, das dem Handballer das Bier.

      Unser Trainer hatte einen sehr schönen roten Ballonkopf. Er schnaufte beim Gehen, aber wenn er mal zwei Meter die Seitenlinie entlangstapfte, war er sehr agil. Es lag vielleicht an seinen immerweißen Spezialhandballturnschuhen, die ihn dann gegen alle Gesetze der Bierschwerkraft herumfedern ließen, als sei er ein Balletthandballer.

      Ich war Linksaußen. Das ist, wie im Fußball, die Idiotenposition. (Nur der Handballtorwart ist noch bekloppter als der Handballinksaußen.) Von links außen werden im Handball mehr »Hundertprozentige« versiebt als von jeder anderen Position. Das kann ich beweisen. Man setzte mich auf die Bank.

      Des Trainers Glatze glänzte wie eine blankpolierte Messingtresenarbeitsfläche. Danach, um etwa vierzehn Uhr, gingen wir in ein Rustikallokal. Jetzt, sagten der Trainer, der Lange und der vorbildlich unsportliche Kurz-Dicke unisono, werden wir einen Stiefel trinken.

      Wer einen Bierstiefel zum Munde führt und das Bier nicht in den Schlund