»Nie fragen, wie viele Rinder und wieviel Land ein Rancher besitzt«, lautet ein ungeschriebenes Gesetz des Cowboykodexes im »Open Range«. Greg Titus, der »Buckaroo Boss«, der Chef der 71 Ranch, die Teil eines Verbundes von neun Höfen ist, sieht das weniger eng und gibt bereitwillig Auskunft: 2.500 Rinder, zirka 15.000 Hektar – und fünfzig Pferde, die nur die versiertesten Cowboys »mit einer starken Persönlichkeit« zähmen und zureiten könnten.
Anschließend trägt er den kategorischen Cowboy-Imperativ vor, das »Cowboy Up!«: »Mach hin! Hör auf, dich zu beschweren! Leg die Extrameilen zurück! Unternimm die Extraanstrengung!« Daneben gibt es weitere Gebote, beispielsweise diese: »Mach nie eine Kuh verrückt!« – »Wenn du neu bist in der Gegend, halte die Klappe und mach die Augen auf!« – »Schrei nie den Hund eines anderen an!« – »Hetze dein Pferd nie nach Hause zurück in den Stall!« – »Bevor du ißt, füttere dein Pferd!«
»Entdecke den Cowboy in dir!« Das ist die Aufforderung, die an uns ergeht. Gleichwohl, auf einem Gaul durch die Gegend zu zuckeln, das hat wenig gemein mit der Arbeit der »Cattlemen«, die bei jedem Wetter den ganzen Tag das Vieh observieren. Während unsereins »die heilige Ruhe der Natur« (James F. Cooper) genießt, den Blick ins »great wide open«, auf das flirrende Panorama, über gewellte Wiesen, auf die gestaffelten Anhöhen der Ruby Mountains, die gebüschgesäumten Weiher, während unsereins die Linien der Schotterwege und Zäune, die erdigen Farben der Hügel, die ausgedehnten, verdorrenden Grasflächen adoriert und das Säkulare kontemplativ poetisiert, erläutert Greg unter seinem grauen Stetson trocken: »Wir tun hier alles im Hinblick auf das Ende der Kuh. Wir sind Fleischproduzenten.«
»Jeder Cowboy ist ein Doktor und ein Apotheker«, fährt er fort, aber kranke Rinder, die in den Ruby Mountains grasen, müßten erschossen werden. »Pferde sind Teil unserer Produktion und keine niedlichen Haustiere«, meint er dann, um uns auf die Kastration eines Hengstes in der alten Scheune vorzubereiten – »ein trauriger Tag für ihn«. Dem Vorgang möchte man, weiß man hinterher, nicht noch mal beiwohnen und lugt verlegen hinüber zum ehemaligen Schlachthaus, einem spitzgiebeligen, weißen Holzverschlag am Rande einer Koppel.
Die Viehgroßhändler würden traditionell mit rüden Scherzen bedacht, sagt Greg und zupft an seinem gezwirbelten Schnurrbart. Das »cowbusiness« sei hart, die Rindfleischbörse unterliege erheblichen Schwankungen, die Globalisierung dränge die amerikanischen Rancher in die Enge, deshalb verlege man sich verstärkt auf den Tourismus, auf das Konzept »Ferien auf dem Bauernhof«. Da gelte es, die Artenvielfalt zu konservieren, die Natur zu schützen, »alles im Gleichgewicht zu halten, darauf sind wir stolz«. Und er setzt hinzu: »Viehzüchter sind in allererster Linie Landmanager. Kühe sind lediglich Graspakete. Was bleibt, ist das Land.«
Einen feinfühligen, indes keineswegs nostalgisch eingefärbten Vortrag hält der Sprecher einer befreundeten Ranch. Er ist bemüht, das Bild des Cowboys als eines unzivilisierten, unbändigen Raufbolds zu revidieren, die Cowboydichtung als der Nachsicht zugeneigte, zarte Ausdrucksform zu würdigen und die heutigen Herausforderungen der Landschaftspflege, des sorgsamen Umgangs mit der Kreatur zu skizzieren. Das schließt die Frage der Wiederansiedlung der Bisons ein, die im kolonialistischen Besiedlungskampf vernichtet wurden. Warum man einst die Bisons nicht domestiziert hat, legt Greg dar: Ein Büffel würde ein Pferd innerhalb von zehn Sekunden aufspießen und in Stücke reißen.
Nein, der Cowboy sitzt nicht um die Mittagszeit im Schaukelstuhl auf der Veranda und guckt versonnen oder wohlig versponnen ins Nichts. Die Popularreligion der ruralen Ruhe überdauert höchstens in der Werbung. Der Mythos verblaßt endgültig, als wir beim Tontaubenschießen kollektiv versagen. Und wer jemals beobachtet hat, wie ein Kalb eingefangen wird – von hinten schleichen sich vier Männer an, werfen Lassos um die Hörner, die Beine und den Leib, fixieren das randalierende Wesen und zwingen es nieder –, der weiß: Die Artistik des Cowboys lebt von der Kraft und der Kondition derer, die zuweilen auch zur Gitarre greifen und von Hoffnungslosigkeit kündende Weisen anstimmen.
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An der Bar des Red Lion Hotel & Casino in Elko gerät der Kollege aus Boston nach den Erlebnissen auf der 71 Ranch ins Schwärmen. »Ich fühl’ mich wie John Wayne. In jedem Mann steckt ein Cowboy. Und in jedem Cowboy steckt ein Poet.« Und Poeten trinken Bier. Der Kollege aus Boston greift zur Bierflasche. Buckaroo-Bier. It’s all about ridin’, shootin’, drinkin’, women.
Molly vom Western Folklife Center in Elko, einer dieser vielen pragmatischen kleinen Städte in den USA, läßt die Luft raus: »Es ist die neuste Mode in Amerika, daß sich Millionäre in Cowboyklamotten werfen.« Baxter Black, den die New York Times zum »wahrscheinlich erfolgreichsten lebenden Poeten Amerikas« kürte, obendrein zum renommiertesten Cowboydichter des Planeten, Baxter Black, der ehemalige Tierarzt, der auf einer Ranch in Benson, Arizona, haust, Baxter Black, angetan mit polierten schwarzen Cowboystiefeln, einer gewaltigen silbern-ellipsenförmigen Gürtelschnalle und einem schwarzen, seidenen Halstuch, Baxter Black, der in mehr als hundert Tageszeitungen des Landes kolumniert, eine eigene Radiosendung und Fernsehclips produziert, Baxter Black, dieser skurrile, hagere Mann mit dem walroßartigen Cartoonschnurrbart, beschwört einerseits den Geist des Wilden Westens, die imaginierten Urgründe, »why the cowboy sings«. Andererseits beherrscht der sentimentale Patriot, Geschichtensammler und -erzähler und gewiefte Entrepreneur die hohe sinnzerstäubende Kunst des Nonsens, der Stegreifzerstörung der Idee des gefügten Daseins. Denn nämliches sei eine Häufung peinlicher Pannen, schauderhafter Schwachmatenhampeleien, unbegreiflicher Blödheiten dämlicher Cowboys. Da helfe allein die Hingabe gegenüber dem Gefühl des »Wabi-Sabi«, der demütigen Freude an der herben Schönheit eines Lebens in der Isolation.
Baxter Black gilt als der unumstrittene Star des National Cowboy Poetry Gatherings, des bedeutendsten Festivals in den USA, das der Cowboykultur gewidmet ist. Im Januar dieses Jahres fand es zum fünfundzwanzigsten Mal statt, eine Woche lang strömten Tausende Besucher zu ungezählten Veranstaltungen – von Workshops über Filmvorführungen, Tanzperformances, Konzerte bis zu Lesungen.
Es gebe eine »Renaissance der Cowboypoesie«, sagt Charly Seaman, der Direktor des 1980 gegründeten Western Folklife Centers im ehemaligen Pioneer Hotel im Zentrum der »letzten Kuhstadt in Amerika«. Seaman und sein aus Spenden und öffentlichen Geldern finanziertes Institut treten für den Erhalt und die Weitergabe cowboykultureller Errungenschaften ein. Man pflegt die Dokumentation der »horse based cultures« durch aufwendige Photoausstellungen, Film- und CD-Produktionen, pädagogisch inspirierte Kurse und Oral-history-Projekte. Identitätsstiftung und -vertiefung, unter Einbeziehung der ethnischen Pluralität selbstverständlich, sind explizite Ziele der Bemühungen.
»Die Leute sind hungrig nach Authentizität«, sagt Charly. »In Zeiten des Internets gibt es einen Run auf Cowboyfestivals«, erklärt Molly. Ja, das sei wohl vergleichbar mit dem Boom der Mittelaltertreffen in Deutschland, bestätigt sie und spricht von einer regelrechten »Cowboyindustrie«, die traditionalistisch und ungebrochen romantizistisch Klischees bediene und ausbeute. Während Hollywood spätestens seit John Fords Klassiker Der Mann, der Liberty Valance erschoß der Destruktion der »Ideologie des amerikanischen Traums« (Kurt Scheel: Ich & John Wayne, Berlin 1998) Raum gibt und ein atemberaubendes Kunstwerk wie Clint Eastwoods Erbarmungslos die Grausamkeiten der Gesetzlosigkeit als tiefgreifende Korrektur am Cowboymythos und seinen Lügen der Autonomie und des Heldentums in Szene setzt, lebt in der florierenden Westernpopindustrie die zum Teil konstruierte, zurechtgebastelte Vergangenheit fort, nicht selten in Gestalt restaurativ historisierender, mythisch aufgeladener Kitschwaren: von Wyatt-Earp- und »Real Life«-Comics über legendäre Shoot-outs, von Outlaw-Historiographien und -Hagiographien über Heimatfilme, kunstgewerblich aufgemotzten Sattel- und Sporenklimbim, Billy-the-Kid-Büsten, Jesse-James-Gürtelschnallen und John-Wayne-Statuen bis zur – recht profanen – Werbeprosa: »Buffalo Bill Cody! Wyatt Earp! Billy the Kid! Sie wußten es aus erster Hand! Die Waffe, mit der der Westen erobert wurde, trug das Colt-Warenzeichen.«
Baxter Black trinkt auf der Bühne stilles Mineralwasser.