Vor ein paar Wochen wurde uns so ein Patient gebracht. Ein alter, freilich noch sehr rüstiger Mann. Er war allein auf seinem Reisfeld gewesen, hatte abends einen epileptischen Anfall bekommen und dann lange in dem kleinen Feuer gelegen, in das er gefallen war. Der linke Arm war hin, und die Verbrennungen auf Brust und Bauch gingen ganz sicher auch bis in die Muskulatur.
Der Mann klagte nicht, vermutlich gingen die Nekrosen so tief, dass alle Nerven zerstört waren. Seine Frau war bei ihm und ein Sohn.
Ich erklärte ihnen, dass ich den Arm würde amputieren müssen. Dass der nicht zu retten war.
Ich amputierte den Arm am nächsten Tag dicht unterhalb vom Schultergelenk. Vorher schaute ich noch einmal nach, ob der Arm wirklich nicht zu retten war. Er war es nicht, die Muskeln waren weiß wie die eines gekochten Huhns, und alle Blutgefäße waren tot. Nur ganz am Knochen gab es noch ein wenig rosigen Muskel, aber auch der blutete nicht mehr. Es ist immer noch ein seltsames Gefühl, einen Knochen durchsägen zu müssen.
Fast jeden Tag ging ich dann bei dem alten Mann vorbei, wunderte mich ein wenig, dass es ihm so relativ gut ging. Sein Verband war fast immer feucht, so wie es sein sollte. Und wenn ich zur Essenszeit kam, hatten seine Verwandten ihm fast immer wirklich gutes Essen gebracht. Nicht einfach nur ein bisschen Reis und ein paar gekochte Blätter sondern des Öfteren Fisch oder ein Hühnerbein. Er war aus Njassa, ein halbes Dutzend Kilometer von Lugala entfernt. Auf dem Weg nach Biro.
Irgendwann war es dann so weit, dass ich die Hauttransplantation machen konnte. Wir gaben dem alten Mann vorher noch eine Bluttransfusion. Es stand sofort ein Spender bereit.
Ich löste die Nekrosen bis fast zu den Rippen und bis tief ins Fettgewebe der Bauchwand. Hier und dort musste ich mit dem Skalpell nachhelfen. Ganz hatte sich das tote Gewebe noch nicht demarkiert. Aber der Blutverlust hielt sich in Grenzen. Es war ja kein Kind. Spalthaut entnommen, gemesht, aufgelegt. Ohne das Dermatom und ohne das Meshgraftgerät, die mir weitgehend vom Deutschen Institut für Ärztliche Mission (DIFAEM) und Kurts Freunden in Kehl spendiert worden waren, hätte ich nur zusehen können, wie der Mann entweder gestorben wäre oder furchtbare Keloidnarben entwickelt hätte. Wie man sie hier manchmal nach unbehandelten Verbrennungen sieht. Wenn dann die Eltern mit ihren verkrüppelten Kindern kommen. Wenn es zu spät ist. Rechtzeitig zu kommen, gleich nach der Verbrennung, war ihnen das Kind nicht wert. Schichtweiser Verband, und nun musste der alte Mann einfach eine Woche ruhig im Bett liegen, damit die Spalthaut anwachsen konnte.
Ich war ein wenig erstaunt, dass er keine Lungenentzündung bekam. Ich meine, er war wirklich ein alter Mann.
Verbandswechsel nach einer Woche, die Haut war weitestgehend eingeheilt. Noch einmal einen Verband, aber der alte Mann würde nun bald gehen können. Ich sagte zu ihm, dass es Zeit werde, wieder eine Hacke in die Hand zu nehmen.
»In nur eine Hand« fragte er.
Ich schwieg.
Tja, jetzt war der alte Mann ein Krüppel. Mir wurde das erst jetzt so richtig bewusst. Vorher hatte ich mich einfach nur um sein Überleben bemüht. Was konnte er noch mit nur einem Arm machen, auch wenn es der rechte war?
Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, seine Frau und sein Sohn würden ihn nun nicht einfach verhungern lassen. Nun, da der alte Mann nutzlos geworden war. Sie würden ihm sein Gnadenbrot geben, dachte ich – für eine Weile jedenfalls. Vielleicht war er ein guter Mann gewesen.
Lasst uns Gott danken
[28. August 2006]
Tanga ist ein Dorf knapp 20 Kilometer von Lugala entfernt. Es liegt auf einer kleinen Bodenwelle, und von dem Weg hinauf hat man einen weiten Blick über die Niederung, die man durchquert hat, über unendliche Reisfelder und auf die Mahenge Berge im Hintergrund. Wir sind schon mehrmals mit Besuchern mit Fahrrädern nach Tanga gefahren. Es gibt noch einen zweiten Weg, der nach Tanga führt, über Biro und Mbalinyi, aber den nimmt man eher selten. Tanga hat eine richtige kleine Geschäftsstraße: na ja, die Straße ist natürlich ein staubiger Weg und die Geschäfte sind auch nur Buden. Aber trotzdem. Man kann dort Tee trinken, warmen, süßen Tee und »maandazi« (Berliner) essen. Das nächste Dorf hinter Tanga ist dann Ngoheranga, dort ist eine große katholische Missionsstation. Aber auch Tanga hat eine Grundschule und einen staatlichen Gesundheitsposten. Den Gesundheitsposten habe ich noch nie besucht. Ich habe auch kein Bedürfnis ihn zu besuchen. Im Laufe der viereinhalb Jahre, die ich jetzt schon in Lugala bin, sind sicher ein halbes Dutzend Kinder aus Tanga mit Meningitis zu uns gekommen, die erst einmal tagelang gegen Malaria behandelt worden waren. Als sie schließlich zu uns kamen, starben sie jeweils innerhalb weniger Stunden. Was mich angeht, gehört der ganze Verein dort standrechtlich erschossen. Andererseits sind sie wahrscheinlich auch nicht schlechter als die katholischen Gesundheitsposten in Mtimbira und Itete, von denen wir unsere geburtshilflichen Katastrophen bekommen. Und alle kann man ja schlecht an die Wand stellen. In abgelegenen Gebieten einen Gesundheitsdienst zu unterhalten, der der Rede wert ist, ist im Grunde wohl eine unlösbare Aufgabe.
Vor vierzehn Tagen, ja es ist gerade erst 14 Tage her, brachten Eltern morgens ihr sechsjähriges Mädchen aus Tanga. Es war dort drei Tage mit Spritzen behandelt worden. Brettharter, angeschwollener Bauch.
Deogratias hieß das Mädchen.
Was sich hinter dem brettharten Bauch verbarg, war natürlich nicht offensichtlich. Dass es nichts war, das man mit Penicillinspritzen behandelte, sollte aber selbst einem Blinden mit Krückstock klar sein. Hämoglobinwert 4,5.
Wir schoben sie zum OP.
Ich bat Lenna, dem Mtandi bei der Anästhesie zu helfen. Eine Intubationsnarkose bei einem Kind in schlechtem Allgemeinzustand traue ich Mtandi nicht mehr so ganz zu. Er wird einfach alt.
Längsschnitt.
Mir quoll schwarzer aufgeblähter Darm entgegen. Scheiße. Ein Volvulus, eine Darmverdrehung. Wäre das Kind vor drei oder zwei Tagen gekommen, hätte ich den Darm einfach zurückdrehen und den Bauch wieder zunähen können. Jetzt war der Darm hin. Ich zog ihn vorsichtig aus dem Bauch heraus. Wenigstens schien er noch nirgends perforiert zu sein. Es war noch kein Eiter im Bauch. Es blieb mir nichts anderes übrig als den schwarzen Abschnitt zu resezieren. Ich bat Tindwa, mir zusätzlich zu Mwahija zu assistieren. Damit es schneller ging. Der Narkose wegen. Ich klemmte den noch gesunden Darm auf beiden Seiten von dem nekrotischen Abschnitt mit Darmklemmen ab. Schnitt das schwarze Stück heraus. Es füllte fast eine Waschschüssel. Ob das Kind mit dem restlichen Darm würde leben können? Der tote Darm war voll Blut, dahin war das Blut also gelaufen, daher der Hämoglobinwert von 4,5.
Mwachiko brachte eine Blutkonserve.
Für die End-zu-End Anastomose der gesunden Darmenden setzte ich mich. Das war Feinarbeit. Der Dünndarm einer Sechsjährigen ist halt nicht sehr dick, und man muss schon sehr aufpassen, dass man keine Stenose verursacht. Wenigstens hatten wir geeignetes Nahtmaterial mit feinen Nadeln.
Ich nähte den Bauch wieder zu.
Das Mädchen war plötzlich ganz dünn. Ganz klein und mager. Noch dünner als Lottchen. Armes Ding. Wenn die Eltern ein bisschen heller wären, hätten sie sich ja auch nicht mit diesen Spritzen in Tanga zufrieden geben müssen. Hätten sie sich doch von selbst schon vor zwei Tagen auf den Weg machen können!
Als ich nach Hause ging, schaute ich noch bei dem Mädchen vorbei. Es war aufgewacht, aber noch ein wenig benommen. Immerhin hatte es die Anästhesie und die Operation überlebt.
Am zweiten Tagen ließ ich Deogratias süßen Tee trinken.
Am dritten Tag ließ ich sie Uji essen.
Vierter Tag: kein Fieber, der Bauch weich. Sie hatte Stuhlgang gehabt. Deogratias lächelte mich an. Ganz lieb. Und fast tat mir mein Herz weh, so lieb lächelte sie mich an. Bei so einem Kinderlächeln kann einem schon komisch werden. Normale Darmgeräusche.
Fünfter Tag. »Nun musst du aber mal endlich aufstehen. Du hast jetzt lange genug gefaulenzt.