Die Fürsten des Terrors, die Gotteskrieger und Clan-Milizen sind allerdings keineswegs nur äußerlich vom Westen instrumentalisierte Kräfte, die ihm nun zu entgleiten beginnen. Auch ihr Geisteszustand ist nicht »mittelalterlich«, sondern postmodern. Die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen dem Bewußtsein der marktwirtschaftlichen »Zivilisation« und dem Bewußtsein der islamischen Terroristen können nicht allzu sehr erstaunen, wenn man bedenkt, daß es sich bei der Logik des Kapitals um einen irrationalen Selbstzweck handelt, der nichts anderes als säkularisierte Religion darstellt. Auch der ökonomische Totalitarismus teilt die Welt in »Gläubige« und »Ungläubige«. Die herrschende »Zivilisation« des Geldes kann die Abkunft des Terrors nicht rational analysieren, weil sie sonst sich selbst in Frage stellen müßte. So definiert der aufgeklärte Westen den Islamismus ebenso als »Werk des Teufels« wie dieser umgekehrt den Westen. Die irrationalen dichotomischen Bilder von »Gut« und »Böse« gleichen sich bis zur Lächerlichkeit.
Was in den Köpfen der Chefterroristen vorgeht, ist seiner Natur nach nicht bizarrer als die Art und Weise, wie die Chefmanager der globalen Marktwirtschaft Mensch und Natur unter dem destruktiven Zwang des abstrakten betriebswirtschaftlichen Kalküls wahrnehmen und zurichten. Der religiöse Terror schlägt ebenso blind und sinnlos zu wie die »unsichtbare Hand« der anonymen Konkurrenz, unter deren Regiment permanent Millionen von Kindern verhungern – um nur ein Beispiel zu nennen, das den angesichts der Opfer von Manhattan zelebrierten Kult der Betroffenheit in ein seltsames Licht taucht.
Wenn die Medien zwischen den Zeilen eine heimliche Bewunderung für die ungeahnten technischen und logistischen Fähigkeiten der Terroristen erkennen lassen, wird auch in dieser Hinsicht die Verwandtschaft der Seelen deutlich:
Beide Seiten gehören gleichermaßen der modernen »instrumentellen Vernunft« an. Denn auf beide trifft zu, was in Melvilles »Moby Dick«, dieser großen Parabel auf die Moderne, der unheimliche Kapitän Ahab sagt: Alle meine Mittel sind vernünftig, nur mein Zweck ist wahnsinnig. Die Ökonomie des Terrors entspricht spiegelbildlich dem Terror der Ökonomie. So erweist sich der Selbstmordattentäter als die logische Fortsetzung des einsamen Individuums in der universellen Konkurrenz unter den Bedingungen der Aussichtslosigkeit. Was hier zum Vorschein kommt, ist der Todestrieb des kapitalistischen Subjekts. Daß dieser Todestrieb dem westlichen Bewußtsein selbst inhärent ist und nicht nur durch die soziale, sondern auch durch die geistige Trostlosigkeit des totalitären Marktsystems ausgelöst wird, beweisen die periodischen Amokläufe von Mittelstandskindern in den Schulen der USA und das Attentat von Oklahoma, das bekanntlich ein authentisches Produkt des inneren Wahnsinns der USA war. Der auf ökonomische Funktionen reduzierte Mensch wird ebenso verrückt wie der Mensch, den der Verwertungsprozeß als »überflüssige Existenz« ausspuckt. Die instrumentelle Vernunft entläßt ihre Kinder.
Weil der irrationale Kern seiner Ideologie dem islamischen Fundamentalismus gleicht wie ein Ei dem anderen, kann der Kapitalismus nur noch zum Kreuzzug aufrufen, zum »heiligen Krieg« der westlichen »Zivilisation«. Allein solche Opfer, die Star-Kolumnistinnen der USA, Broker in Manhattan und Bürger der westlichen Freiheit sind, gelten als wirkliche Opfer und werden in Gedenkgottesdiensten beweint. Der Tod von irakischen Zivilisten und serbischen Kinder dagegen, die von Bomben aus zehn Kilometer Höhe zerfetzt wurden, weil die kostbare Haut der US-Piloten nicht geritzt werden durfte, erschienen nicht als Menschenopfer, sondern als »Kollateralschaden«. Sogar vor den Toten macht die globale Apartheid nicht halt. Der westliche Begriff der Menschenrechte enthält als stumme Voraussetzung die Verkäuflichkeit der Person und die Zahlungsfähigkeit. Wer diese Kriterien nicht erfüllen kann, ist eigentlich kein Mensch mehr, sondern ein Stück Biomasse. So teilt der westliche Fundamentalismus die Welt auf in das angeblich zivilisierte »Reich« einerseits und die »neuen Barbaren« andererseits, wie der französische Publizist Jean Rufin schon Anfang der 90er Jahre feststellte.
Das Imperium wankt. Innerhalb weniger Monate hat sich der Mythos der ökonomischen Unverwundbarkeit durch den Zusammenbruch der »New Economy« blamiert. Jetzt ist der Mythos der militärischen Unverwundbarkeit zusammen mit dem Pentagon in Flammen aufgegangen. Das utilitaristische Denken der Funktionseliten versucht sogar aus dieser Katastrophe noch Nutzen zu schlagen. Denn mitten im Absturz der Finanzmärkte hat man plötzlich den Stoff für eine Dolchstoßlegende: Nicht die herrschende Ordnung ist obsolet, wenn weitere Finanzblasen platzen und womöglich die Weltmarktwirtschaft kollabiert, sondern der »externe Schock« des Terrorschlags soll dann die Ursache gewesen sein – so Wim Duisenberg, Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB). Das Systemversagen wird in die externe Bosheit der fremdartigen »Ungläubigen« umdefiniert, aber dadurch nicht ungeschehen gemacht.
Gleichzeitig rollt eine Welle der ebenso hysterischen wie schmalzigen Kriegspropaganda, als schrieben wir den August 1914. Überall melden sich zuhauf Freiwillige, mitten im Crash steigen die Aktien der Rüstungsindustrie, fast schon macht sich Hoffnung auf eine Kreuzzugs-Konjunktur breit. Aber klandestine Gruppen von Männern, die mit Messern und Teppichschneidern bewaffnet sind, fordern nicht die Massenmobilisierung und Bündelung aller gesellschaftlichen Kräfte heraus. Der Terror stellt kein äußeres Gegenimperium auf derselben Ebene von Staatlichkeit und Kriegswirtschaft dar. Er ist die innere Nemesis des globalisierten Kapitals selbst. Deshalb kann er keinen neuen Rüstungsboom hervorrufen. Auch militärisch wird der Kreuzzug ins Leere gehen. Ob mögliche »Vergeltungsschläge« der USA wie gehabt aus zehn Kilometern Höhe irgendeine Zivilbevölkerung dezimieren oder ob Bodentruppen unter hohen Verlusten durch entlegene Bergregionen irren, wie es die Armee der Sowjetunion in Afghanistan erfahren mußte: Aus dem Pseudo-Krieg gegen die von ihm selbst hervorgebrachten Dämonen der Weltkrise wird der Kapitalismus keine Nahrung für sein Fortleben mehr saugen können.
Es sind auch Stimmen der Vernunft zu hören, von Feuerwehrleuten in New York bis zu einzelnen Journalisten und Politikern, die wenigstens sagen, daß ein Krieg völlig sinnlos wäre. Aber diese Vernunft droht hilflos zu bleiben und von der Welle der Irrationalität weggeschwemmt zu werden, wenn sie nicht zu einer Analyse der Krisenverhältnisse findet. Es gibt nur einen Weg, dem Terror wirklich den Nährboden zu entziehen: die emanzipatorische Kritik am globalen Totalitarismus der Ökonomie.
DAS ENDE DER THEORIE
Auf dem Weg zur reflexionslosen Gesellschaft
Es ist keineswegs selbstverständlich, daß eine Gesellschaft »über« sich selbst nachdenkt. Das ist nur möglich, wenn eine Gesellschaft sich selbst mit anderen Gesellschaften in Geschichte und Gegenwart kritisch vergleichen kann; vor allem aber in Zuständen, in denen eine Gesellschaft sich selber gewissermaßen von innen heraus fragwürdig wird, einen Widerspruch mit sich selbst austrägt, in ihrer eigenen Struktur und Entwicklung über sich selbst hinausweist.
Ganz sicher trifft dies auf sämtliche vormodernen Gesellschaften nicht zu. Diese Gesellschaften waren noch keine planetarischen, sie hatten kein historisches Bewußtsein und keine Verfügung über die Geschichte als eine Abfolge von Entwicklungsprozessen und sozialökonomischen Formationen. Ebensowenig lagen sie mit sich selbst, mit ihrer eigenen Form, in Konflikt. Eine Dynastie konnte die andere ablösen, aber die gesellschaftliche Form als solche konnte nicht in Frage gestellt werden; dafür gab es gar keine Kriterien. Solche Gesellschaften konnten sich über unglaublich lange Zeiträume reproduzieren (im Falle des alten Ägypten über mehrere Jahrtausende hinweg), ohne aus sich selbst heraus zugrunde zu gehen; ihr Ende war daher in erster Linie von äußeren Ursachen bedingt.
Gesellschaft erschien unter solchen Bedingungen immer als »Gesellschaft