Zu der eben skizzierten Rezeptionsgeschichte Kierkegaards gehört es nun auch, dass die erbaulichen Reden in Deutschland, ähnlich wie in Dänemark, wenig gelesen werden, während die pseudonymen Schriften seit je bei der Leserschaft größeres Interesse finden. Erst in jüngster Zeit werden die erbaulichen Reden von der theologischen Forschung stärker beachtet (G. Pattison, A. Haizmann). So könnte es sein, dass gerade die Beschäftigung mit ihnen zu einem besseren Verständnis Kierkegaards führt. Denn sein intersubjektiver Denk- und Redestil zeigt sich besonders an den Reden, die von vornherein auf die selbsttätige Rolle des Lesers setzen und ihr die Subjektivität des Autors konzeptionell unterordnen.
Was hat Kierkegaard mit Philosophie zu tun?
Es ist weithin üblich, Kierkegaard der Philosophie zuzuordnen. Das geschieht mit einem gewissem Recht, insofern er Bücher geschrieben hat, die schon mit ihrem Titel, ihrer Problemstellung und ihrem Aufbau zu verstehen geben: Hier geht es um Themen der Philosophie, hier wird grundsätzlich über Fragen des Menschseins nachgedacht. Bücher wie »Entweder-Oder«, »Philosophische Brocken«, »Der Begriff Angst« und »Die Krankheit zum Tode« bedienen sich einer Begrifflichkeit, die weithin aus der Philosophie des deutschen Idealismus, vor allem Hegels, übernommen ist. Sie setzen sich auseinander mit Denkern und Gedanken, die uns aus der Geschichte der abendländischen Philosophie bekannt sind, angefangen mit Sokrates, Platon und Aristoteles. Schließlich folgen manche Schriften Kierkegaards in Aufbau und Gedankenführung einer strengen Systematik, was spätere Philosophen dazu veranlasst hat, sich gerade auf sie zu berufen. Karl Jaspers und Martin Heidegger haben »Der Begriff Angst« und »Die Krankheit zum Tode« besonders hoch geschätzt, weil Kierkegaard darin seine Anschauung vom Menschsein mit größerer begrifflicher Klarheit und Folgerichtigkeit als in anderen Schriften entfaltet. Dennoch ist die Zuordnung Kierkegaards zur Philosophie problematisch, ja in mehrfacher Hinsicht irreführend und falsch.
|33| Gewiss lässt sich aus seinen Schriften so etwas wie eine Existenzphilosophie entwickeln; mehrere Philosophen des 20. Jahrhunderts (Karl Jaspers, Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre) haben das auch getan. Andere, wie z. B. der dänische Kierkegaard-Forscher Eduard Geismar, haben Kierkegaards Lebensphilosophie zu beschreiben versucht.25 Aber das beweist nicht, dass das Werk von Kierkegaard solche philosophischen Anliegen verfolgt oder dass Kierkegaard darin nichts weiter als eine bestimmte philosophische Konzeption vertritt. Die Existenzphilosophen haben die menschliche Existenz unabhängig vom christlichen Glauben verstanden. Damit haben sie Kierkegaards Existenzbegriff auf den Bereich des humanen Selbstverständnisses reduziert und die Pointe seines Werkes verfehlt. Denn Kierkegaard geht es um »Existenz im Glauben« (Liselotte Richter), nicht ohne den Glauben. Er will seine Leser zu der Erkenntnis führen, dass kein Mensch von sich aus um die Wahrheit seiner Existenz weiß, weil er in der Unwahrheit, in verzweifelter Fixierung auf sich selbst existiert. Erst wer sich im Verhältnis zu Christus als Sünder verstehe, könne sich selbst verstehen. Der Haupteinwand gegen die Existenzphilosophie ist also, dass hier Existenz ohne die für Kierkegaard entscheidende Bestimmung der Sünde begriffen wird. Sie verliert ihr religiöses Zentrum: die Vergebung der Sünden als Bedingung der Möglichkeit, sich in Wahrheit zu verstehen. Wo dies nicht als Dreh- und Angelpunkt festgehalten wird, ist Kierkegaards Werk missverstanden.
Nicht weniger problematisch erscheint es mir, ihm eine »Philosophie ohne Systemzwang«26 zuzuschreiben. Mit dieser von der neueren Forschung angeregten Deutung hebt der Theologe und Religionsphilosoph Hermann Deuser zwar zu Recht hervor, dass Kierkegaard dem systematischen Denken in der Schule Hegels ein antisystematisches Denken entgegengesetzt hat, das sich auf die Existenz des Einzelnen bezieht. Wenn aber daraus abgeleitet wird, diese Philosophie erlaube es, »Wirklichkeit […] in einem offenen Prozeß zu bestimmen«,27 wird Kierkegaard doch wieder, freilich auf subtile Weise, einem systematischen Denkzusammenhang eingefügt und als Theoretiker interpretiert, der einem philosophischen Programm verpflichtet war. Ein Theoretiker hat der Däne aber nicht sein wollen, sondern bewusst die literarische Form gewählt, um seinen Leser, den Einzelnen, zu einer existenziellen |34| Auseinandersetzung mit der Tradition des christlichen Glaubens zu bewegen. Deuser bemerkt selbst, dass Kierkegaard das Dichterische bzw. die Literatur zu seiner »Lebensform« gemacht habe.28 Das legt den Schluss nahe, sein Werk als eine Art von Literatur zu verstehen, die es mit dem Religiösen, genauer: mit dem Menschlichen und dem Christlichen, zu tun hat. Diese Form steht im Dienst einer doppelten Intention, die das Gesamtwerk der Schriften und Reden verfolgt: auf das Christliche aufmerksam zu machen und zu erbauen. Herauszuarbeiten wäre also, weshalb Kierkegaard keine objektiv philosophische Abhandlung über menschliche Existenz geschrieben hat, sondern dichterische Fiktionen braucht, die den Leser mit Existenzmöglichkeiten konfrontieren. Welche literarischen Gattungen oder Textsorten verwendet er, um dieses Ziel zu erreichen?
Drei verschiedene Textsorten
Betrachtet man das Werk als ganzes, so legt sich rein formal eine Einteilung in drei verschiedene Textsorten nahe (zu denen gelegentlich, aber nicht durchgehend noch eine vierte Textsorte hinzukommt):
a) Die erste Gruppe bilden die pseudonymen Schriften von »Entweder-Oder« bis zu »Einübung im Christentum«. Ein Pseudonym hat für Kierkegaard sozusagen die Funktion einer literarischen Maske: Der Autor verbirgt sich hinter einer Maske, weil er die Rolle eines anderen spielen und nicht mit diesem identifiziert werden will. Kierkegaard greift zu diesem – in der romantischen Literatur beliebten – Gestaltungsmittel, um den Leser zu veranlassen, sich mit Problemen der individuellen menschlichen Existenz zu beschäftigen, d. h. mit Aufgaben, die jedem Menschen durch sein konkretes Dasein als Lebensaufgaben gestellt werden. Bei der Lösung – oder vorsichtiger: bei der Bearbeitung – dieser Aufgaben sind allgemeine und objektive Wahrheiten nur begrenzt von Nutzen. Wichtiger sind beispielhafte Figuren, Personen, an denen sich zeigt, auf welche Weise Menschen sich in ihrer Existenz verstehen, kurz: wie sie ihr Leben wahrnehmen und führen. Und dem Autor Kierkegaard liegt daran, dass sein Leser sich in die Lage fiktiver Figuren versetzt, gewissermaßen in ihre Rolle schlüpft, um an ihnen Möglichkeiten menschlicher Existenz zu erkunden. Zu diesem Zweck wählt Kierkegaard Pseudonyme, die schon durch ihre Eigenart neugierig machen, die Phantasie ansprechen und zum Nachdenken herausfordern: Victor Eremita, der |35| siegreiche Einsiedler, oder Johannes de Silentio, Johannes vom Schweigen, oder Hilarius Buchbinder, der heitere Buchbinder. Das Spielerische, die Vielfalt literarischer Formen, die hochreflektierten Anspielungen, Verschachtelungen, Einschübe, Mystifikationen, die uns in den pseudonymen Schriften begegnen, sind kunstvolle Mittel, die allesamt den Leser zur Selbsttätigkeit bewegen. Der Leser muss selbst herausfinden, was ihn angeht. Darin besteht offenbar Kierkegaards Methode in den pseudonymen Schriften: Wahrheiten menschlicher Existenz so darzustellen, dass der Leser sich dazu verhalten muss. In diesem Zusammenhang entwickelt er seine Kategorien der Existenz bzw. des Sich-in-Existenz-Verstehens und seine Lehre von den Stadien (ästhetisch – ethisch – religiös), die verschiedene Existenz- oder Lebensweisen beschreiben.
Liest man die pseudonymen Schriften fortlaufend im Zusammenhang, so wird erkennbar, dass es darin um ethisch-religiöse Wahrheiten geht, deren Eigenart darin besteht, dass sie »sich