Der Vater
Michael Pedersen Kierkegaard stammte aus ärmlichen Verhältnissen in Jütland. Die bittere Armut seiner Heimat muss ihn schon als kleines Kind so sehr verbittert haben, dass er als Hütejunge an einem frostigen Herbsttag auf einen Hügel stieg, die Fäuste gen Himmel reckte und Gott verfluchte, weil er ihn in einem derart elenden Dasein leben ließ. Diesen Fluch muss aber Michael Pedersen, der von der Herrnhuter Frömmigkeit geprägt war, nie mehr vergessen haben, auch dann nicht, als er zu einem reichen Verwandten nach Kopenhagen in die Kaufmannslehre kam, bald ein eigenes Geschäft als Wollwarenhändler mit großem Erfolg aufbaute und reich wurde. Als er in erster Ehe kinderlos blieb und seine Frau frühzeitig starb, und als er dann seine Magd heiratete, mit der er sieben Kinder bekam, von denen fünf in noch jungem Alter starben, da kam er zu der Überzeugung, dass seine kindliche Gottesverfluchung auf ihn und seine Familie zurückgefallen sei. Als seine Frau das 7. Kind erwartete, fasste der schon 56-jährige Michael Pedersen den Entschluss, dieses Kind Gott als Opfer darzubringen. Er gelobte, wie einst Hanna vor der Geburt ihres Sohnes Samuel (1Sam 1), dieses Kind solle Gott in besonderer Weise priesterlich gehören. So wollte er den verfluchten Gott versöhnen. Sören Aabye war also schon bei seiner Geburt am 5. Mai 1813 ein »Geopferter« und nahm diese Bestimmung, je mehr er sie im Lauf der Jahre begriff, als seine Lebensbestimmung an.
Es ist klar, dass der Vater mit diesem Sohn aufs Engste verbunden blieb und sich um dessen Erziehung in ganz besonderer Weise kümmerte. Kierkegaard gibt in einer unvollendeten und erst posthum veröffentlichten Schrift »De omnibus dubitandum est« auf pseudonyme Weise mit einer Erzählung einen Einblick in diese Erziehung:
|22| »Sein Vater war ein sehr strenger Mann, dem Anschein nach trocken und prosaisch, indessen er unter dieser Friesjacke eine glühende Einbildungskraft verbarg, die auch sein hohes Alter nicht abzustumpfen vermochte. Wenn Johannes zuweilen um die Erlaubnis bat, ausgehen zu dürfen, wurde er zumeist abschlägig beschieden; wohingegen der Vater gelegentlich zum Entgelt ihm vorschlug, an seiner Hand die Diele auf und nieder zu spazieren. Das war beim ersten Augenschein ein dürftiger Ersatz, und doch ging es damit ebenso wie mit der Friesjacke, er barg etwas ganz anderes in sich. Der Vorschlag ward angenommen, und es wurde Johannes ganz überlassen zu bestimmen, wo es hin gehen sollte. Sie gingen dann aus dem Tore, zu einem nahe liegenden Lustschlösschen oder hinaus zum Uferstrand, oder umher in den Straßen, ganz wie Johannes es wollte; denn der Vater vermochte alles. Während sie so die Diele auf und nieder gingen, erzählte der Vater alles, was sie sahen; sie grüßten die Vorübergehenden, Wagen ratterten an ihnen vorüber und übertäubten die Stimme |23| des Vaters; die Früchte der Kuchenfrau waren einladender denn je. Er erzählte alles so genau, so lebendig, so gegenwärtig bis zur unbedeutendsten Einzelheit, die Johannes bekannt war, so ausführlich und anschaulich, was ihm unbekannt war, daß er, wenn er eine halbe Stunde mit dem Vater spaziert war, so überwältigt und müde worden war, als wenn er einen ganzen Tag aus gewesen wäre. Die Zauberkunst des Vaters lernte Johannes ihm bald ab.«16
Hier liegt die Wurzel für die herausragende Gabe der Phantasie, die Kierkegaard auszeichnete. Sein Vater hat sie mit Hilfe der phantasievollen Spaziergänge im Wohnzimmer ausgebildet. Sie beflügelte den Sohn in seinen Schriften so sehr, dass seine Argumentation häufig durch eines seiner Gleichnisse zur Evidenz und d. h. zu einleuchtender Kraft gebracht wird. Es sind Gleichnisse, die den Leser zu eigener Einbildungskraft einladen. Der amerikanische Theologe T. C. Oden hat in seinem Buch »Parabels of Sören Kierkegaard«17 alle Schriften auf Gleichnisse hin durchforscht. Er kam auf insgesamt 533 Gleichnisse und Gleichniserzählungen in dem Gesamtwerk. Kierkegaard war eben ein Augen-Mensch, und er wollte die Vorstellungskraft seiner Leser und Leserinnen provozieren, so dass sie etwas zu sehen bekommen, was ihnen »einleuchtet«. Das ist eines der Geheimnisse seiner Schriftstellerkunst, das uns auch in seinen Erbaulichen Reden begegnen wird.
Ein anderes Geheimnis seiner Schriftstellerkunst, das er als Kind bei seinem Vater gelernt hat, ist die Kunst der Dialektik:
»Mit einer allmächtigen Einbildungskraft verband der Vater eine unwiderstehliche Dialektik. Wenn da bei der einen oder anderen Gelegenheit der Vater sich in ein Wortgefecht mit einem andern einließ, so war Johannes ganz Ohr, und das um so mehr, als alles in einer beinahe feierlichen Ordnung vor sich ging […] Der Vater ließ den Widerpart jederzeit völlig ausreden, fragte ihn auch noch aus Vorsicht, ob er noch mehr zu sagen habe, eher er mit seiner Antwort begann. Johannes war dem Vortrage des Widerparts mit gespannter Aufmerksamkeit gefolgt, war auf seine Weise mit daran interessiert, wie es ausging. Die Pause trat ein, die Erwiderung des Vaters folgte, und sieh! Im Handumdrehen war alles anders. Wie das zuging, blieb für Johannes ein Rätsel; aber seine Seele vergnügte sich an diesem Schauspiel. Der Widerpart sprach zum andern Mal. Johannes war noch aufmerksamer, um alles richtig festzuhalten; der Widerpart wurde eindringlich. Johannes konnte beinahe sein |24| Herz klopfen hören, so ungeduldig wartete er, was da wohl geschehen werde. Es geschah; in einem Nu war alles umgekehrt, das Erklärliche unerklärlich gemacht, das Gewisse zweifelhaft, das Gegenteil einleuchtend. Wenn ein Hai seine Beute packen will, so muß er sich auf den Rücken herumwerfen, denn sein Rachen sitzt auf seiner Bauchseite; Er ist am Rücken dunkel, silberweiß unter dem Bauche. Es soll ein herrlicher Anblick sein, diesen Wechsel in der Farbe zu sehen: sie soll zuweilen so stark blinken, daß es dem Auge nahezu wehe tut, und doch macht es Freude, es anzuschauen […] Eines ähnlichen Wechsels Zeuge wurde Johannes, wenn er den Vater disputieren hörte. Er vergaß das Gesagte wieder, sowohl das, was der Vater als auch das, was der Widerpart gesagt hatte, aber dies Erschauern der Seele vergaß er nicht.«18
Mit der Kunst der Dialektik und der Kunst einer intensiv ausgebildeten Vorstellungsgabe war Kierkegaard ausgestattet, als er sich 1830 an der Universität Kopenhagen einschrieb, natürlich für Theologie, denn so hatte es ja sein Vater vorgesehen. Doch eben dieser Vorsehung des Vaters suchte sich der Sohn im Laufe seines Studiums mehr und mehr zu entziehen, zuerst in die Philosophie und in das kulturelle Leben seiner Zeit, dann in ein ausschweifendes, kostspieliges Studentenleben, dessen Unkosten der Vater dennoch bereitwillig bezahlte, schließlich in ein Langzeitstudium, das auch im 16. Semester noch lange kein Ende zu nehmen schien. Wonach er suchte, notiert der 22-jähriger Student in sein Tagebuch19, sei eine »Wahrheit für mich«, und nicht Wissensvermehrung, nicht Erkenntnisgewinn, die »für mich selbst und mein Leben keine tiefere Bedeutung« hätten. Schon hier deutet sich die Richtung an, die sich später in dem programmatischen Satz Kierkegaards verdichten wird: »Die Subjektivität ist die Wahrheit«.
Es sind dann aber doch zwei objektive Ereignisse im Jahr 1838, die dem Leben wie dem Studium Kierkegaards eine entscheidende Wende geben: Einmal stirbt im März sein geliebter Lehrer und Freund Poul Möller, der seinem Schüler vielleicht einen Lehrauftrag für Philosophie an der Universität hätte besorgen können. Wichtiger noch ist der Tod seines Vaters im August, was Kierkegaard mit den Zeilen im Tagebuch kommentiert:
»Mein Vater starb am Mittwoch, dem 8., nachts 2 Uhr. Ich hatte so innig gewünscht, daß er noch einige Jahre gelebt hätte, und ich sehe seinen Tod als das letzte Opfer an, |25| das er seiner Liebe zu mir brachte, denn er ist nicht von mir weggestorben, sondern für mich gestorben, damit womöglich noch etwas aus mir werden kann«.20
Mitten zwischen diesen beiden Todesdaten liegt ein Ereignis, das Kierkegaard in seinem Tagebuch nicht nur mit einem Datum, sondern sogar mit Uhrzeit versieht: 19. Mai, vormittags 10 ½ Uhr. Es wird die Stunde seiner »Bekehrung« genannt. Der Begriff scheint mir deshalb falsch gewählt, weil in »Bekehrung« ein aktives Moment des sich bekehrenden Menschen mitschwingt, der sich gleichsam mit einem Sprung in den Glauben versetzt hat. Die Tagebuchnotiz Kierkegaards klingt aber ganz anders. Sie ist eher Ausdruck einer Überwältigung, die mit ihm vor sich gegangen ist:
»Es