Aber wieso, zum Teufel, wieso interessiert mich eigentlich, was in hundert Jahren hier unten im Schiffsbauch los sein mag!? Wo doch verdammt noch mal mein Hier und Jetzt schon reichlich Sprengstoff zu bieten hat. Wahrscheinlich grade deshalb! Weil die Gegenwart, weil dieses Schmoren in der schwimmenden Zelle hier einfach nicht zu ertragen ist.
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3
Was ist das jetzt wieder? Ich schrecke aus traumlosem Schlaf.
»Aah, besten Dank«, stammle ich. Die wirklich verdammt nicht schlecht aussehende Nurse von der Krankenstation hier – dass ich für so was schon wieder einen Blick habe! He he, warte mal, kommt mir so bekannt vor, die mit ihrem brünetten Haar, traumhaft weich fallende Locken rahmen das bildschöne Gesicht ein, kristallblauer Blick, der unter absolut grade gezogenen Augenbrauen hervor glitzert. Als hätte ich sie schon zigmal gesehen. Ich weiß es nicht, aber … die Nurse gibt mir einen klobigen Becher, und ich, durstig wie nach sieben Wochen Sahara, lege sofort die Lippen ans Porzellan und … und trete eilends den Rückzug an: Heiß! Glühend heiß, der Tee. »Bevor ich mir das Maul verbrenne, Miss, sagen Sie mir doch um Himmels Willen mal endlich, um wie viele Opfer es sich eigentlich handelt!«
»Ich darf nicht mit Ihnen sprechen.«
Ja! Die Stimme kenne ich. Nur viel jünger die hier, wie‘s scheint, mindestens hundert Jahre jünger. Seltsam. Aber egal jetzt.
»Jetzt stellen Sie sich doch bitte mal vor, was sich in meinem Schädel für ein Rodeo abspielt. Ich will wissen, verdammt noch mal, was ich für eine Tragödie hinterlassen habe. Begreifen Sie das nicht?«
»93.«
»93 was?«
»Tote. 93 Tote und 434 Verletzte«, flüstert sie und schleicht zur Tür hinaus.
Grauenhaft. Doch so viele Tote. Und über 400 Verletzte. Und da reservieren Smith und meine wackeren Offizierskollegen auch noch eine von den paar wenigen Krankenstationskabinen, um mich aus dem Verkehr zu ziehen! Muss man sich mal vorstellen.
Lag ich also mit meiner Vermutung deutlich drunter: fast hundert Tote! Ich meine, sicher, war schon gewaltig, der Schlag. Oben auf der Brücke, obwohl wir es da oben ja haben auf uns zukommen sehn, genau wussten, woher der Stoß kam – trotzdem hat uns die Wucht umgehauen. Wie mag‘s da erst in den Salons drunter und drüber gegangen sein! War ja noch vor Mitternacht, da wird noch so einiges an Betrieb gewesen sein. Am wenigsten Opfer wahrscheinlich in den Kabinen. Vor allem in der dritten Klasse, wo ja um 22:00 Uhr das Licht gelöscht wird und die allermeisten wahrscheinlich brav in den Betten liegen. Trotzdem, es wird natürlich schon einige aus den Betten geholt haben: nicht schnell genug aus dem Schlaf geschreckt, über die Kojenbegrenzung gerollt, dem Sturz auf den Kabinenboden nichts entgegenzusetzen. Wohl dem, der in den Etagenbetten nicht oben liegt. In erster Linie natürlich wird es, Nachtruhe hin, Nachtruhe her, die Passagiere in den Kabinen ganz vorne im Bug erwischt haben; da also dann doch die dritte Klasse. Und eine Menge Besatzungsmitglieder, die noch weiter vorn, in der zweiten Rumpfkammer ihre Kojen haben, oder sagen wir: hatten. Aber, Moment mal – Schnitt durchs Gestern, zurück ins Heute: ein Geräusch … was ist das für ein Geräusch?
Hört sich an, als ob … ein Motorengeräusch. Aber nicht unseres. Definitiv nicht. Das kommt von draußen – da ist ein anderes Schiff im Anmarsch! Ohne Zweifel. Mein Gott, wie haben wir uns das gestern Nacht herbeigesehnt! Vor allem für die Verletzten. Und für all die Leute, die, ein Schleudertrauma im Nacken und von Irrsinnspanik ergriffen, keinen Meter mehr, auf den Tod keinen Meter mehr an Bord der angeschlagenen Titanic weiterfahren wollten. Letztlich blieb ihnen ja nichts anderes übrig, aber wahrscheinlich gibt es unter den Passagieren kaum einen, der nicht von dieser Angst besessen ist, dass der Kahn im Bug noch mehr vollläuft, schließlich den Schnabel unter Wasser steckt und dann irgendwann denn doch noch absäuft. Da kann man noch so oft predigen, das Schiff sei unsinkbar. Das glaubt den Herrn Offizieren jetzt eh keiner mehr, und dem Ismay, unserm White Star-Zeus, und seinem Chefkonstrukteur Andrews noch viel weniger. Aber Letzterer bramarbasiert auch schon längst nicht mehr mit der grandiosen Technik, hat das Wort Unsinkbarkeit vom ersten Rums an schon nicht mehr in den Mund genommen. Der Ruf der Titanic ist ruiniert. Den hab‘ ich auf dem Gewissen. Obwohl ich ja eigentlich genau das Gegenteil bewiesen hab, dass nämlich der Pott noch schwimmfähig bleibt, selbst wenn er einen ordentlichen Schlag abgekriegt hat! Auf alle Fälle müssen die zu Tode erschreckten Passagiere ja auch irgendwie wieder aufgerichtet werden, und da wäre letzte Nacht ein zu Hilfe eilendes Schiff wahrhaftig ein Segen gewesen.
Sicher, hab‘ ich ja nicht mitbekommen, die Panik nach dem Eisbergschlag, da war ich ja schon hier unten weggesperrt. Aber was sich auf dem Flur vor meiner Haftkabine abspielt, das hab‘ ich natürlich registriert. Das Hin- und Hergerenne, das Heulen, das Schreien. Das sind nicht alles nur Schmerzensschreie. Da sind nicht wenige, die schreien gegen ihre Alpträume an! Mein Gott, wie gut wäre es gewesen, wenn wir wenigstens die schwersten Fälle a tempo einem anderen Schiff hätten überantworten können! Aber nichts. Hatte nicht wer anderthalb Stunden nach dem Crash durch den Gang gerufen, man habe am Horizont die Californian ausgemacht?! Aber auch Stunden später, Stunden nach Phillips Havarie-Funksprüchen kreuzt sie nicht auf. Im Gegenteil, ich hab‘ von meinem Bullauge aus mit eigenen Augen gesehn, wie ihre Lichter hinterm Horizont verschwanden. Nicht zu begreifen. Partout nicht zu begreifen, aber genauso passiert.
Aber jetzt das da vorne, das kann nicht mehr einfach abdrehen, das ist auch nicht nur ein Lichtschimmer am Horizont, das ist ein Schiff mit Schloten und Planken, mit Steven und Gösch, mit nicht zu überhörendem Typhon und vor allem mit Ladekränen und mit Gangways, die man nach dem Andocken rüberschieben kann. Das hier ist die Rettung nach sechzehn langen Stunden auf einem elend tuckernden Todeskutter!
Der Name ist beim besten Willen von hier aus nicht zu lesen. Könnte, wie‘s aussieht, ja, könnte die – das ist die, muss die Olympic sein. Auf dem Weg nach Europa. Von der hatte Phillips doch ein Antwortsignal auf unser SOS aufgeschnappt. Wenn es wirklich unser Schwesterschiff ist, und ich bin mir ziemlich sicher, dann müssen die jetzt eine Kehrtwende machen. Einen Teil unserer Leute übernehmen und zurück marsch marsch. Denn der Weg nach Amerika ist von hier aus erheblich kürzer als der nach England. Nach dem Havarieschock jetzt also die Aussicht auf New York in vielleicht anderthalb Tagen! Daher auch der Applaus, das Gekreische und Gejohle auf unserm Promenadendeck, oder von wo das hier herunterschallt.
Langsam drehen sie bei, unendlich langsam, legen sich längsseits neben uns. Ich hör schon die ersten Taue durch die Luft sirren. Sie holen ein, während an der Bordwand noch die Fender in freudiger Erwartung der tonnenschweren Stöße, die sie aufzufangen haben, herabgelassen werden. Unglaublich: die beiden teuersten und größten und fast baugleichen Ozeangiganten – jeder für zweieinhalb Millionen Pfund Sterling von Harland & Wolff, der weltbesten Werft, im Auftrag der White Star Line erbaut – auf offener See direkt nebeneinander! Vielleicht noch zwei, anderthalb, noch ein Meter Atlantik dazwischen.
Jetzt – jetzt ist gar nichts mehr zu sehn von hier aus. Nur die Bordwand gegenüber. Die beiden Riesenrümpfe verschieben sich noch ein paar Meter, voraus, achtern, voraus, dann sitzt die Chose. Und mein Bullauge – das ist ja hochinteressant: Mein Bullauge gibt den Blick jetzt frei direkt und gradeaus in die Empfangshalle der Olympic! Also wenn wir mal davon ausgehn, dass es sich dabei um die Olympic handelt.
Jedenfalls ist mir der direkte Blick aufs Passagiergewimmel gegönnt! Und, ja tatsächlich, die Gesichter kenne ich. Die sind von der Titanic. Erste-Klasse-Herrschaften, die jetzt da drüben verdattert rumstehn, mit schwammigen Knien, mit ungläubigen noch, aber zunehmend freudestrahlenden Gesichtern. Bis wenige Minuten vor dem Crash noch hatten sie an Bord Squash gespielt, gepflegt bei Kerzenlicht ein Zwölf-Gänge-Dinner vertilgt, sich im türkischen Bad verwöhnen lassen, hatten im Swimmingpool ein paar wohltemperierte Bahnen gezogen, im eichengetäfelten Salon einen nach Leder, Karamell und Rauch schmeckenden Whisky zu sich genommen und dem Offenbachschen