Gemessen an der normalen Anzahl der Zuteilung von Schlachtvieh, bekam mein Opa einige Sonderlieferungen. Ihm oblag die Verpflichtung, die dortige Kaserne der Roten Armee mit entsprechend kontingentierten Fleischwaren zu versorgen. Abgeholt wurde die Ware von zwei gut Deutsch sprechenden Offizieren. Schon nach kurzer Zeit hatte mein Opa es geschafft, ein anhaltendes Vertrauensverhältnis aufzubauen. Die Offiziere parkten bei ihm in der Garage ein sicherlich irgendwo beschlagnahmtes Motorrad mit ausreichenden Benzinreserven, um an Wochenenden heimliche Spritztouren zu unternehmen. Wenn Fleischwaren abzuholen waren, zog man sich ins Kontor zurück und besprach die Lieferliste mit einigen Gläschen Wodka. Sobald sich die Möglichkeit bot, hatte ich mich mit ins Kontor geschlichen und setzte mich in eine hintere Ecke. Niemand nahm von mir Notiz. So hörte ich eines Tages, wie die Zwei von stalinistischen Zwangslagern erzählten. Am Ende seines Berichtes hielt einer der beiden die gespreizten Finger beider Hände über Kreuz vor sein Gesicht, um anzudeuten, was zu erwarten wäre, wenn seine Schilderung bekannt würde. Soweit meine frühen Einblicke in die politische Realität.
Etwa zwanzig Minuten Fußweg trennten mich vom Ufer der Elbe. Während des Krieges war dort in Ufernähe ein Frachtschiff, voll beladen mit Briketts, untergegangen. Es lag etwa zwei Meter unter Wasser. Eine Einladung für meine Freunde und mich, nach der Kohle zu tauchen und so manchen Handwagen voll davon zu Hause abzuliefern.
Direkt vor der Fleischerei endete die Straßenbahn, die Dessau und Roßlau verband – ein Triebwagen und ein, hin und wieder auch zwei Anhänger. Die Schienen waren niveaugleich in das Straßenpflaster eingelassen und endeten abrupt ohne jede Sperre. Die Straße sollte ja schließlich auch für Pferdewagen und Autos in voller Breite genutzt werden können. An dieser Endhaltestelle musste nun der Triebwagen die Richtungsposition ändern, an den Anhängern vorbei wieder an die Spitze Richtung Dessau fahren. Dafür waren zwei Weichen und ein kurzes paralleles Gleisstück eingerichtet. Gar nicht so selten kam es vor, dass der Triebwagenführer zu weit ausholte und mit den vorderen Rädern auf das Straßenpflaster geriet und festsaß. Der Schaffner ging dann zur nahe gelegenen Gaststätte, kam auch in unseren Fleischerladen und bat alle dienstbereiten Männer um Hilfe. Mit lauten Rufen und Kommandos gelang es stets, die Straßenbahn wieder einsatzbereit zurückzuschieben. Ein immer wieder unterhaltsames Schauspiel für zahlreiche Zuschauer.
Die Schlachtabfälle lagerten einige Tage im Hof bis zur Entsorgung. Das zog natürlich Ratten an. Scherry, unser Hofhund, ein Terrier, besorgte die Abwehr. Leider hatte er auch einen großen Freiheitsdrang und benutzte jede Gelegenheit, bei offenem Hoftor auszubüxen. Klar, dass Opa mich auf die Suche schickte. So lernte ich viele Straßen, Gassen und Plätze kennen. Wenn ich ihn fand, kam er ganz vertraulich angewedelt und ließ sich widerstandslos an die Leine nehmen. Meistens fand ich ihn im Schlossgarten und so hatte ich wenig Mühe, seinem Fluchtweg zu folgen.
Die Ferien gingen zu Ende. Die Abiturprüfungen nahten heran. Die zu erwartenden schriftlichen Prüfungsaufgaben, wurden von einer Zentralstelle formuliert. Die mündlichen Fragen ergaben sich aus dem Lehrplan. In jedem Fach umriss in den letzten Wochen der Lehrer jeweils das gesamte Spektrum der erforderlichen Kenntnisse, die jeder Schüler für ein Bestehen „drauf haben“ musste. Unser Primus ersann eine ungewöhnliche Vorbereitungsmethode. Für jedes Prüfungsfach wurde eine „Expertengruppe“ gebildet mit der Aufgabe, sachbezogene Gliederungstitel zu formulieren und eine erschöpfende Abhandlung zu Papier zu bringen. Jeder hatte am Ende einen umfassenden Ordner mit ausreichendem Prüfungswissen, beste Vorbereitungschancen und keiner fiel durch. Anlässlich späterer Klassentreffen war diese Strategie immer wieder ein mit vielen Episoden drapierter Gesprächsstoff.
Wenige Wochen vor dem Abitur wurde ohne Ankündigung jeder Schüler, somit auch ich, ins Zimmer des Rektors bestellt. Vier Herren saßen um einen Tisch herum und boten mir dort einen Sitzplatz an. Ich sei doch wohl auch, wie sie, für den Frieden, den es aber zu sichern gelte. So wäre der Eintritt in die Nationale Volksarmee doch eine große Chance für jeden jungen Mann, dem der Frieden am Herzen läge.
„Was hast du denn für Berufsvorstellungen?“
„Ich möchte gern Bauingenieurwesen studieren.“
„Sehr gut, aber völlig überlaufen, wohl aussichtslos“.
Leider war ich so unvorsichtig, Interesse an Flugzeugen zu zeigen, und in der Folge hatte ich schweißtreibende Mühe, mich aus dieser Klammer wieder herauszuwinden.
Entgegen dieser Angstmache wurde ich ohne Probleme als Student des Bauingenieurwesens zum Herbstsemester 1955 an der Technischen Hochschule Dresden immatrikuliert. Noch war ich erst siebzehn Jahre alt. Hans, ein Klassenkamerad, wählte das gleiche Studium, ebenfalls in Dresden. Auch er wurde angenommen. Noch immer bin ich mit ihm freundschaftlich verbunden. Mit seiner Familie wohnt er heute gleichfalls in unserer Nähe und wir sehen uns regelmäßig.
Vor Studienbeginn konnte ich noch einige Wochen im Riesaer Reifenwerk arbeiten und etwas zum Familienetat beisteuern. Ab Studienbeginn erhielt ich ein Stipendium, etwas gekürzt, da ich nach wie vor kein Arbeiter-und Bauernkind war. Meine erste Unterkunft in Dresden war ein Zimmer im Studentenwohnheim, zusammen mit weiteren fünf Kommilitonen untergebracht in drei Doppelstockbetten. Einer von ihnen war Hans, mein heutiger Freund und ehemaliger Klassenkamerad.
Der lange Schatten und der 50. Breitengrad
Prägend waren für mich zwei besondere Erlebnisse während der Oberschulzeit.
Anfang März 1953 verstarb der gefürchtete wie untertänig verehrte Übervater Josef Stalin. Wir waren inzwischen in die elfte Klasse aufgestiegen. Der Jahrgang vor uns bereitete sich auf das Abitur vor.
Etwa Mitte März wurden alle Schülerinnen und Schüler wieder einmal in die Aula zu einer klassenübergreifenden Zusammenkunft gebeten. Das Lehrerkollegium versammelte sich wie gewöhnlich vorn links. Mit meinen Klassenkameraden hatte ich einen Platz in der Mitte des Saales. Die Abiturklassen saßen weiter vorn. Das Hauptthema und das Nachspiel haben sich mir unvergessen eingebrannt. Der Rektor betrauerte noch einmal pflichtgemäß den unermesslichen Verlust für die gesamte Menschheit und setzte uns unversehens in Kenntnis über das schändliche Treiben der Riesaer Jungen Gemeinde.
Sie sei eine Brutstätte antisozialistischer, konterrevolutionärer Umtriebe, ihre Aktivisten seien Volksschädlinge, scheinheilig getarnt hinter christlichen Wertvorstellungen, einfach Abschaum. Das Allerschlimmste aber sei, dass einige Schüler unserer Oberschule dort mitwirkten.
Als schlagenden Beweis könne er den von ihm selbst besichtigten Schaukasten der Jungen Gemeinde anführen. Zum Tod des allseits schmerzlich betrauerten Generalissimus hätte die Junge Gemeinde ein Bild von ihm auf rotem Hintergrund ausgehängt. Mit dem Rot der Arbeiterklasse wolle sie nur täuschen und ihre versteckte Freude über Stalins Tod signalisieren, denn die Farbe wirklicher Trauer sei Schwarz. Eine unerhörte Provokation. Des Rektors Gesicht war inzwischen rot angelaufen, nicht schwarz. Beklemmende Stille trat ein. Die Luft im Saal lastete schwer auf der Schülerschaft.
Ein Arm ging in die Höhe und ein Schüler aus einer der Abiturklassen erhob sich. Mit ruhiger Stimme bekannte er sich als Mitglied der Riesaer Jungen Gemeinde. Ich sah ihn nur von hinten, meine aber, mich an einen eher schmächtigen rotblonden Burschen zu erinnern. Er verwahrte sich gegen die ungeheuerlichen Anschuldigungen. Nichts würde stimmen. Die Riesaer Junge Gemeinde sei eine Jugendgruppe der evangelischen Kirche mit dem alleinigen Ziel einer gemeinschaftlichen christlichen Betätigung. Sie seien Teil der Kirchengemeinde. Politische Arbeit oder gar oppositionelle Öffentlichkeitssuche fände nicht statt.
Er konnte tatsächlich ausreden. Allem Anschein nach hatte niemand mit einer derartigen Widerrede gerechnet. Dieses mutige Bekenntnis empfand ich als tollkühn und es fuhr mir in alle Glieder. Ich war starr vor Ehrfurcht und Bewunderung, aber gleichzeitig auch mit bestürzender Ahnung. Musste nicht mit einem sofortigen Schulverweis gerechnet werden? Abitur ade, Lebensplanung dahin, Zukunft verdorben. Später erfuhr ich, dass er tatsächlich unsere Schule verlassen hatte oder musste, jedoch in Westberlin Aufnahme fand und gewiss sein Abitur nachholen konnte. Ich war erleichtert. Dieser unerschrockene Bekennermut,