Erst vier Jahr später schuf die UNO mit der Genfer Konvention einen völkerrechtlichen Schutz für Zivilpersonen in Kriegszeiten. Geschähe das heute, wäre diese Missetat ein Kriegsverbrechen, ein moralisches wird es wohl bleiben.
„Bringst du einen Menschen um, nennt man dich einen Killer und du kommst auf den elektrischen Stuhl, tötest du Millionen, wird dir ein Orden verliehen“ (unbekannter amerikanischer Verfasser).
Kriegsende und Besatzung
Eine normale Landstraße, von Nordost kommend, durchquert Dahlenwarsleben, öffnet sich in der Dorfmitte vor dem Rathaus und der Kirche zu einem Platz und führt dann weiter in Richtung Autobahn nach Magdeburg. Auf ihr war plötzlich ungewohnter Betrieb. Zurückflutende Wehrmachtsverbände strebten Richtung Magdeburg. Ein Befehlshaber verpflichtete den Bürgermeister dazu, eine Straßensperre bauen zu lassen, wohl um nachrückende alliierte Verbände aufzuhalten. Zwischen zwei eingeschossigen Einfachhäusern, die unmittelbar am Straßenrand standen, errichteten verfügbare Einsatzkräfte an jeder Seite einen massiven, mannshohen Steinsockel. Es verblieb ein etwa drei Meter breiter Zwischenraum, der mit einer herbeigeschafften Straßenwalze geschlossen wurde. Als nach Abzug der militärischen Verbände der Bürgermeister mit einigen Vertrauten wieder allein war, gelangte er zu der Einsicht, dass diese Sperre anrückende Panzer nur dazu einlud, sie zu umfahren, indem sie die am Rande stehenden, wackligen Hofgebäude einfach niederbrächen. Die Straßenwalze wurde zur Seite gefahren und die Passage wieder frei gegeben. Kurz darauf sah ich den Bürgermeister mit zwei Begleitern, in der Hand eine weiße Fahne, auf der Landstraße den sich nähernden Amerikanern entgegengehen. Nach einem kurzen Stopp und Entgegennahme der Berichterstattung des Bürgermeisters rückten die Amis in Dahlenwarsleben ein.
Unter der Bevölkerung, besonders unter den Frauen, herrschte ein großes Angstgefühl. Wie wird das Ganze wohl enden? Vorsichtshalber verbargen sich alle in den Luftschutzräumen, wir uns im Keller unseres Hauses. Es geschah absolut nichts. Noch nicht einmal ein GI kam in den Keller, um nachzuschauen. Stattdessen hörten wir Klaviermusik. Die Amis machten es sich in unserem Wohnzimmer bequem und spielten Boogie-Woogie auf unserem Klavier. Für diesen Zweck hatten es meine Eltern ganz bestimmt nicht mit auf den Umzugswagen geladen.
Eine der älteren Frauen im Keller, vermutlich die unattraktivste, fasste sich ein Herz und ging nach oben. Nach zwanzig Minuten kam sie zurück und war fassungslos. Das Haus war voller Uniformen, aber keiner der Soldaten nahm sie näher zur Kenntnis. Da sie kein Englisch sprach, wagte sie nicht, jemanden anzusprechen und Fragen zu stellen. Nach einem ungestörten Rundgang durchs Haus ging sie wieder zurück in den Keller und hatte die vage Empfehlung, man möge einfach nach oben gehen und den nicht mehr zu ändernden Dingen ins Auge sehen. Unsere Mutter zögerte, war jedoch damit einverstanden, dass ich mich oben umsah. Schon in der Diele sprach mich ein GI an und schenkte mir einen Kaugummi. Ich hatte so etwas noch nicht gesehen, ich zeigte ihn meiner Mutter. Um Himmelswillen, der könnte vergiftet sein. Die Kriegspropaganda wirkte noch immer. Der Kaugummi wurde sicherheitshalber entsorgt. Allmählich entspannte sich die Situation und alle Hausbewohner kehrten in ihre Zimmer zurück. Ein Offizier teilte die Räume neu auf. Die Hälfte des Hauses galt als beschlagnahmt für die US-Armee. Uns verblieb allein das Schlafzimmer. Das Wohnzimmer mit dem Klavier war ab sofort ein konfiszierter Sperrbezirk. Des Weiteren mussten alle Waffen auf schnellstem Wege abgeliefert werden. Der Bauer hatte herrliche Jagdgewehre mit ziselierten Läufen aus Suhler Produktion. Achtlos wurden sie über die Knie gebrochen und auf den Mist geworfen. Nachträglich wird sich sicherlich der eine oder andere der Offiziere geärgert haben, sie nicht als Souvenir mit nach Hause genommen zu haben.
Wenn die Militärjeeps vorfuhren, umrundeten sie erst den zentralen Misthaufen und hielten dann vor der Haustür. Die Fahrer waren meist Schwarze. Einer von ihnen saß sehr lässig hinterm Steuer und zündete sich mit einem Feuerzeug eine Zigarette an. Das Feuerzeug hielt er etwa dreißig Zentimeter unter die Zigarette und plötzlich stieg eine gewaltige Flamme auf. Ich war fasziniert und hochgradig beeindruckt.
Nach zwei Tagen wurde das zentrale Lebensmittel-Notlager für die Bevölkerung freigegeben. Alle liefen hin, auch unsere Mutsch. Sie kam aber mit leeren Händen zurück. Einen großen Sack Zucker hatte sie ergattert, als sie aber um die Ecke bog, stand ein Schwarzer mit herausforderndem Grinsen vor ihr. Den Sack fallen lassen und nichts wie weg, das wars dann.
Hinter unserem Hofgrundstück erhob sich ein kleiner Hügel, der Rübenberg, dort stand ein Geschütz und feuerte in Richtung Magdeburg. Mein Bruder und ich hielten uns gerade in der Scheune auf, als ein heftiger Donnerschlag die Luft erschütterte und ein Regen aus handgroßen Splittern von Dachziegeln unversehens auf uns niederprasselte. Wie durch ein Wunder blieb ich unverletzt. Mein Brüderchen aber wurde getroffen, blutete aus einer großen Kopfwunde, war aber bei Bewusstsein. Mit angepresstem Taschentuch lief er über den Hof zum Wohnhaus und einem amerikanischen Militärarzt direkt in die Arme. Der nahm ihn sofort zur Seite, schnitt die Wunde frei und stillte sie mit einem darüber gestreuten Pulver. Unsere Mutter verband den Kopf und das Malheur war bald vergessen. Dem lieben Siegfried sind merkwürdigerweise derartige Missgeschicke noch mehrmals passiert. Diese gottgegebenen Kopfnüsse haben ganz gewiss zu seinen späteren außerordentlichen Schulleistungen beigetragen.
Nach etwa zwei Monaten kam die Order: alle Umgesiedelten wieder zurück zum ursprünglichen Wohnort. Wer seine Wohnung durch die Bombardierung verloren hatte, erhielt eine neue Zuweisung. Die unsere hieß Barbarastraße im ehemaligen Kruppviertel. Ein geräumiges Einfamilienhaus, das nun für drei Parteien Raum bieten musste. Mein Vater war wieder bei Krupp beschäftigt, anfänglich mit Instandsetzungsarbeiten, und stand der Familie nun wieder leiblich zur Verfügung. Viel gab es nicht mehr zu transportieren. Immerhin blieben uns neben einer ausreichenden Kleidung die Betten, Tisch und Stühle und das Klavier. Vom Porzellan und den Bestecken war uns, während wir im Schutzraum ausharrten, die Hälfte gestohlen worden.
Wieder zurück in Magdeburg
Die Schule hatte noch immer nicht wieder begonnen. Die ganztägige Freizeit währte allerdings nicht lange. In die Barbarastraße zog auch ein Lehrer ein, der alle schulpflichtigen Kinder der unmittelbaren Umgebung zum Privatunterricht einlud. Meine Eltern stimmten sofort zu. Bezahlt wurde mit Naturalien. Im Winter musste jeder Schüler zusätzlich ein Stück Kohle mitbringen. Wir waren zu sechst und saßen zusammen mit dem Lehrer um einen runden Esstisch herum. Der Name des Lehrers und die Anzahl der täglichen Unterrichtsstunden sind mir entfallen. Als dann die offizielle Schule wieder begann, wurden die meisten meiner ehemaligen Mitschüler ein Jahr zurückgestuft, während wir Privatklässler nahtlos an unsere letzte Unterrichtsstunde anschlossen. Ohne dass es mir bewusst wurde, war mein frühzeitiger Start von Bad Köstritz gerettet. Möglicherweise doch ein Primzahlprivileg.
Es blieb noch immer genügend Zeit, um sich einer Jugendbande anzuschließen und mitzuwirken. An der Straße stand ein zweigeschossiger Rohbau, ein während des Krieges angefangenes Wohnhaus. Das war unser Hauptquartier. Die Decke im Obergeschoss bestand nur aus Holzbalken im Abstand von etwa einem halben Meter. Absolut trittsicher liefen wir im Laufschritt darüber hinweg. Durch die Brandwand zum Nachbarteil brachen wir eine kleine Öffnung, durch die gerade ein Kinderkörper hindurch passte. Eine erwachsensperrige Fluchtburg. Der vorbeiführende Fußweg wurde mit Stolperdrähten abgeschirmt. Als eines Tages eine ältere Dame über einen der Drähte fiel und sich sehr schmerzhaft die Knie aufschlug, plagte uns das schlechte Gewissen. Mit einem Akkordeon sind wir zu ihrem Haus gezogen, haben uns entschuldigt und ein Lied gesungen. Das hat uns viele Sympathien eingebracht, was sich später auszahlen sollte.
Ganz in der Nähe, an der Grenzmauer des Sudenburger Krankenhauses (heute Medizinische Akademie, Gustav-Ricker-Krankenhaus) fuhr auf offener Straße eine Eisenbahn. Sie verband die Zuckerraffinerie mit dem Krupp-Gruson-Werk. Auf der Rückfahrt blieben die Tore der Güterwagen zur Entlüftung geöffnet. Wir stellten uns rücklings an die Mauer und enterten bei meistens langsamer Fahrt mit einem Hechtsprung einen Waggon. In den Ecken lagen immer große Haufen Zucker, vermutlich