»Ein Jammer, dass das Kind nicht einmal seinen Familiennamen kennt«, meinte Andrea. »Mit dem Hinweis, dass es früher bei seinem Vater im Wald lebte, ist nichts anzufangen.«
»Nein«, gab Betti zu.
»Nun ja, morgen werden alle Zeitungen von dem Eisenbahnunglück berichten. Gewiss wird sich dann jemand melden, der Evi kennt.«
*
Doch die Zeit verging, und niemand meldete sich. Die Polizei stellte Nachforschungen an, aber diese blieben ergebnislos. Die Tote hatte auch keinerlei Papiere bei sich gehabt, die einen Hinweis auf ihre Identität hätte geben können. Und Evi war nach wie vor nicht imstande, ihren Zunamen anzugeben, obwohl es Frau Dr. Frey mit viel Geduld gelungen war, sie aus dem Zustand der Verkrampfung, in dem sie sich befunden hatte, zu lösen.
Andrea unternahm keinen Versuch, Betti dazu zu überreden, Evi nach Sophienlust zu geben. Das innige Verhältnis, das zwischen dem Hausmädchen und dem Kind bestand, rührte sie. Nachdem Evi den ersten Schock überwunden hatte, kam ihr eigentliches Wesen, das heiter und anschmiegsam war, voll zum Vorschein. Sie liebte es, sich mit dem kleinen Peter abzugeben und mit ihm zu spielen, sie war gegenüber Andrea und deren Mann, dem Tierarzt Hans-Joachim von Lehn, zutraulich, aber am liebsten hielt sie sich in Bettinas Nähe auf. Natürlich behinderte sie das Hausmädchen manchmal bei der Arbeit, doch weder Andrea noch Betti nahmen ihr das übel.
Ohne es sich eingestehen zu wollen, war Betti froh, dass sich noch niemand gemeldet hatte, der Anspruch auf das Kind erhob. Betti hatte Evi so gern, dass sie sich eine Trennung von ihr nicht vorstellen konnte. Und Evi schien im Begriff zu sein, Betti als Ersatz für ihre Mutter zu akzeptieren.
Andrea beobachtete dieses Verhältnis mit wachsender Besorgnis. Sie befürchtete, dass eines Tages doch noch Angehörige des Kindes auftauchen und Evi mitnehmen würden. Das würde sowohl für Betti als auch für Evi ein schwerer Schlag sein.
Deshalb entschloss sich Andrea eines Tages, Evi vorsichtig über ihr früheres Leben auszufragen. »Denkst du manchmal an deinen Vati?«, begann sie.
»O ja«, erwiderte Evi sehnsüchtig. »Es ist schade, dass er nicht hier bei uns ist. Oder ich bei ihm. Nein, dann wäre Betti nicht bei mir. Ich weiß nicht …« Evi war verwirrt.
»Von Betti habe ich gehört, dass dein Vati in einem Wald wohnt«, tastete Andrea sich weiter vor.
»Ja, das stimmt«, bekräftigte Evi.
»Und hat es keine größere Stadt in eurer Nähe gegeben?«
»Stadt? Mit Mami habe ich in einer Stadt gewohnt. In einem großen hohen Haus. Viele andere Leute haben auch in dem Haus gewohnt. Wir hatten einen Lift«, schloss Evi stolz.
Damit konnte Andrea so gut wie gar nichts anfangen. »Und wie hat die Stadt geheißen, in der du mit deiner Mami gewohnt hast?«, forschte sie.
»Die Stadt geheißen? Was meinst du?«
»Nun, die Stadt muss irgendeinen Namen haben.«
»Eine Stadt hat einen Namen?«
»Ja.« Andrea begriff, dass dieses Gespräch zu keinem Ziel führen würde. Evi war noch zu klein. Sie konnte auf keinen Fall älter als vier Jahre sein, vielleicht sogar noch etwas jünger.«
»Na ja, dann geh wieder spielen«, meinte Andrea abschließend. »Peterle wird schon ungeduldig auf dich warten.«
Die Erwähnung ihres Vaters hatte in Evi jedoch Erinnerungen geweckt. »Ich habe meinen Vati sehr lieb gehabt«, sagte sie traurig. »Aber er ist krank geworden. Da war ein böser Mann, der hat bum bum gemacht, und Vati hat nicht mehr gehen können.«
»Was sagst du da?«, fragte Andrea erstaunt.
»Mein Vati kann nicht gehen. Nicht richtig. Nur mit … Ich weiß nicht mehr … Er ist lange im Bett gelegen, aber ich habe ja bei Mami gewohnt. Mami wollte Vati nicht besuchen. Sie hat gesagt, dass Vati …, dass Vati …« In dem Bemühen, sich zu erinnern, runzelte Evi die Stirn. »Mami hat gesagt, dass Vati auf unseren Besuch keinen Wert legt«, erzählte sie dann.
»So?«
»Ich weiß nicht, was Mami damit gemeint hat. Sie hat so böse ausgesehen.«
»Denke nicht darüber nach«, sagte Andrea. »Irgendwie wird es uns schon gelingen, deinen Vati ausfindig zu machen«, fügte sie mehr für sich selbst hinzu.
Evi verstand sie jedoch recht gut und meinte: »Dann muss ich wohl von hier und von Betti weg?« Diese Aussicht bekümmerte sie sehr.
Andrea seufzte. Einerseits wusste Evi nicht einmal ihren Zunamen, andererseits begriff sie Dinge, die ihr besser verborgen geblieben wären – wie zum Beispiel den Tod ihrer Mutter – sehr schnell.
*
Es gab noch jemanden, der die ständig wachsende Vertrautheit zwischen Betti und Evi mit Besorgnis beobachtete. Allerdings hatte Helmut Koster völlig andere Motive als Andrea von Lehn. Ihn plagte schlicht und einfach eine völlig unbegründete Eifersucht. Er liebte Betti, aber sie sollte ausschließlich ihm gehören – sonst niemandem.
Anfangs hatte der Tierpfleger gerechnet, dass Evi bald weggeholt werden würde. Dann würde sich das Problem von selbst lösen. Doch inzwischen waren ein paar Wochen vergangen, und nun hatte es den Anschein, dass Evi für immer bei Betti bleiben würde. Da konnte er sich nicht länger beherrschen.
Eines Tages kam er gerade dazu, als Betti einen besonders zärtlichen Kuss in Evis dunkle Locken drückte. Betti saß im Garten, beaufsichtigte Peterle und Evi beim Spielen und nähte dabei an einem roten Faltenröckchen für Evi. Ihren Verlobten bemerkte sie erst, als er schon neben ihr stand. Unbegreiflicherweise fühlte sie sich irgendwie ertappt. Sie ließ Evi los, fuhr ihr noch einmal über den Kopf und schickte sie zu dem kleinen Peter, der in einiger Entfernung damit beschäftigt war, Grashalme und Gänseblümchen auszuzupfen.
Dann sah sie zu Helmut auf. Sein Gesichtsausdruck irritierte sie, sodass sie beklommen fragte: »Was ist los?«
Helmut zog sich einen Gartenstuhl heran, setzte sich neben Betti und erwiderte zögernd: »Nichts ist los.«
Diese Antwort trug nicht dazu bei, Bettis Unbehagen zu vertreiben. Sie fühlte, dass Helmut ihr grollte, konnte sich aber nicht denken, warum.
Nachdem das Schweigen einige Minuten angehalten hatte, sagte Helmut: »Ist es unbedingt notwendig, dass du dauernd mit Evi beisammen bist?«
»Aber, Helmut, ich bin nicht dauernd mit ihr zusammen«, entgegnete Betti verwundert.
»Jedenfalls öfter als mit mir«, meinte der Tierpfleger finster.
»Das kann man nicht vergleichen«, sagte Betti. »Du hast deine Arbeit, und ich die meine. Mir fehlt die Zeit, ständig bei dir zu sein. Außerdem würde ich dir ohnedies nur auf die Nerven gehen, wenn ich den ganzen Tag über bei dir im Tierheim wäre.«
»Das dürfte eher umgekehrt richtig sein«, erwiderte er düster. »Ich bin derjenige, der dir lästig ist.«
»Helmut! Wie kommst du dazu, so etwas zu vermuten?«
»Liegt das nicht auf der Hand? Um Evi bist du zärtlich besorgt, während ich …«
»Evi ist ein Kind!«, rief Betti aus. »Sie hat erst vor Kurzem ihre Mutter verloren. Ich muss einfach alles tun, damit sie diesen Verlust überwindet.«
»Ja, ja, das sehe ich ein. Ich bin schließlich kein Unmensch und habe Kinder gern. Nur finde ich, dass du in deiner Sorge um Evi gewaltig übertreibst.«
»Das ist nicht wahr. Ich habe das Kind sehr lieb, und deshalb … Bist du vielleicht gar eifersüchtig?«
Obwohl Betti ihn durchschaut hatte, bestritt Helmut energisch, von Eifersucht beherrscht zu werden. »Sei nicht lächerlich«, sagte er. »Wie könnte ich auf ein Kind eifersüchtig sein?«
»Eben«,