Die lauten Schreie waren plötzlich verstummt. Dafür vernahm Betti von woanders ein dumpfes Stöhnen. Nein, sie konnte das nicht länger ertragen. Sie war zu schwach, um zu helfen. Ihre vordringliche Aufgabe war es, das Kind von hier wegzubringen.
Betti stolperte mit dem Kind auf dem Arm aus dem Zug, hinaus auf den Bahnsteig. Dort standen die Passagiere der hinteren Waggons, die unverletzt zu sein schienen.
»Eine Weiche war falsch gestellt«, hörte Betti jemanden sagen.
»Der vorderste Wagen ist arg zugerichtet. Ob da noch jemand drin ist?«
»Ja«, sagte Betti, »ich habe gehört, dass jemand geschrien hat.«
»Wir müssen nachsehen, ob wir etwas tun können«, sagte ein Mann entschlossen. Ein paar andere folgten ihm.
Bettis Blick irrte auf dem Bahnhof hin und her, aber Evis Mutter konnte sie nirgends entdecken. Nun eilten Polizisten, Ärzte und Feuerwehrleute herbei und machten es ihr unmöglich, das Gewirr zu überblicken. Sie stand wie betäubt da und hielt Evi noch immer fest an sich gepresst.
»Sie sind verletzt! Halten Sie sich bereit. Wir werden Ihre Wunde dann versorgen. Vorher muss ich sehen, ob es dringendere Fälle gibt.« Ein Arzt war an Betti vorbeigeeilt und hatte ihr diese Worte zugerufen.
»Mami! Ich möchte zu meiner Mami«, weinte Evi.
Ein vorüber kommender Polizist blieb kurz stehen und sagte zu Evi: »Was willst du denn? Du bist ja bei deiner Mami.«
Noch bevor Betti den Irrtum aufklären konnte, war der Polizist schon wieder weg. »Weine nicht, Evi«, tröstete sie das Kind. »Sieh doch die vielen Polizisten und Rettungsmänner. Es kann nicht mehr lange dauern, bis deine Mami gefunden ist.«
Betti musste sich sehr zusammennehmen, um die Furcht, die sie nicht losließ, vor dem Kind zu verheimlichen. Allem Anschein nach war es Evis Mutter nicht gelungen, sich aus den Trümmern zu befreien.
Betti sah angstvoll zu dem zerstörten Waggon hinüber. Dabei erkannte sie, was die Ursache des Unglücks gewesen war. Der Zug, in dem sie sich befunden hatte, war auf eine Draisine aufgefahren. Nur der erste Waggon war arg mitgenommen. Die anderen hatten den Zusammenprall heil überstanden.
»Da, da bringen sie jemanden«, rief Evi und zeigte auf zwei Männer, die eine Bahre trugen, auf der eine verhüllte Gestalt lag.
»Es ist ein alter Mann«, hörte Betti jemanden erzählen. »Er ist verblutet.«
Betti wandte sich erschüttert ab. Sie wusste, sie musste sich nach Evis Mutter erkundigen, doch sie schreckte vor dieser Frage zurück.
Endlich kümmerte sich ein Arzt um ihr verletztes Schienbein. Eine Krankenschwester nahm ihr währenddessen das Kind ab, wogegen sich Evi heftig wehrte. Sie rief dabei wieder: »Mami! Mami!«
»Du darfst gleich wieder zu deiner Mami«, versuchte die Schwester das Kind zu beruhigen. »Siehst du nicht, dass sie verletzt ist? Die Wunde muss versorgt werden.«
Die Krankenschwester unterlag dem gleichen Irrtum wie vorhin der Polizist. Sie hielt Betti für Evis Mutter.
»So, da haben sie noch einmal Glück gehabt«, sagte der Arzt, nachdem er Bettis Wunde gesäubert und einen Verband angelegt hatte. »Andere sind nicht so gut davongekommen. Sie können jetzt mit Ihrem Kind nach Hause gehen und morgen …«
»Das ist nicht mein Kind«, unterbrach Betti ihn. »Ich wollte schon die ganze Zeit … Ihre Mutter war im gleichen Waggon wie ich. Im vordersten. Ich konnte sie nicht finden.«
Der Arzt fasste Evi genauer ins Auge. »Ihre Mutter war im vordersten Waggon?«, fragte er langsam.
»Ja«, erwiderte Betti beklommen.
»Dann muss ich Sie bitten, mitzukommen«, sagte der Arzt. »Nein, das Kind lassen Sie besser einstweilen hier, in der Obhut der Krankenschwester.«
Benommen folgte Betti dem Arzt, der sie zur Eile antrieb. »Schnell, sie sind möglicherweise schon fortgefahren.«
Aber das Rettungsauto, in das man Evis Mutter gelegt hatte, stand noch am Bahnhofsgelände.
»Will man Evis Mutter ins Krankenhaus bringen?«, stammelte Betti.
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob es sich wirklich um die Mutter des Kindes handelt«, sagte er, »aber es wurde nur eine junge Frau im vordersten Waggon gefunden.«
»Und? Was …, was ist mit ihr geschehen?«
»Sie war tot«, erklärte der Arzt einfach. »Man konnte ihr nicht mehr helfen. Ich wollte Sie bitten, sie zu identifizieren.«
Es blieb Betti nichts anderes übrig, als dieser Bitte nachzukommen. Der Arzt hob das Tuch, das die Tote bedeckte, hoch, und Betti blickte in das stille Antlitz von Evis Mutter, das seltsam friedlich und scheinbar unverletzt wirkte.
»Ja«, flüsterte Betti mit heiserer Stimme.
»Wissen Sie den Namen der Toten?«
»Nein. Ich habe erst vorhin im Zug ihre Bekanntschaft gemacht.« Es kam Betti völlig unwirklich vor, dass nur so kurze Zeit vergangen war, seit …
»Dann müssen wir das Kind einvernehmen«, unterbrach ein Polizist Bettis Gedankengänge.
»O nein«, wehrte Betti erschrocken ab. »Evi hatte einen Schock davongetragen. Ich lasse nicht zu, dass man sie quält.«
»Niemand wird das Kind quälen«, beschwichtigte der Polizist sie. »Wir werden sie einfach nach ihrem Namen fragen.«
Leider stellte sich heraus, dass Evi über ihren Zunamen keine Auskunft geben konnte. Entweder wusste sie ihn nicht, oder der Schock war so groß gewesen, dass sie sich nicht mehr daran erinnern konnte. Sie weinte ununterbrochen vor sich hin und verlangte immer wieder nach ihrer Mutter.
»Wir müssen das Kind der Fürsorge übergeben«, meinte die Krankenschwester. »Wer weiß, wie lange es dauert, bis sich die Angehörigen melden.«
»O bitte, ich möchte Evi einstweilen bei mir behalten und sie mit nach Hause nehmen«, bat Betti.
Als Evi Bettis Stimme vernahm, beruhigte sie sich ein wenig und streckte verlangend die Arme nach ihr aus.
Diese Geste bewirkte, dass der Polizeiwachtmeister auf Bettis Verlangen einging.
»Warum nicht?«, meinte er schulterzuckend. »Das Kind hat Sie offensichtlich gern und vertraut Ihnen.«
Betti gab ihre Personalien und ihren Wohnort an. Sie wurde ermahnt, am nächsten Tag das Krankenhaus aufzusuchen, damit ihre Verletzung behandelt wurde, dann durfte sie zusammen mit Evi den Bahnhof verlassen.
Plötzlich hörte Betti eine vertraute Stimme, die ihr zurief: »Betti! Gott sei Dank, Sie leben! Ich hatte so fürchterliche Angst um Sie!«
»Frau von Lehn!«, stammelte Betti. »Wieso sind Sie hier?«
»Ich wollte Sie vom Zug abholen. Sie hatten mir doch geschrieben, welchen Zug Sie benutzen würden. Da dachte ich, ich komme mit dem Auto her, damit Sie nicht den Bus nehmen müssen.«
»Oh, Frau von Lehn …« Betti hatte ihrer Dienstgeberin so viel zu sagen, dass sie keinen Anfang fand.
»Es war schrecklich«, sagte Andrea an ihrer Seite. »Ich hatte mich verspätet. Als ich zum Bahnhof kam, hörte ich die Sirenen von Polizei und Feuerwehr. Die Straße war abgesperrt, und dann wollte man mich nicht zum Bahnhof lassen. Irgendwie bin ich aber doch durchgeschlüpft, und dann habe ich gemerkt, was geschehen ist. Aber Sie konnte ich nirgends finden. Ich …, ich befürchtete schon das Schlimmste. Eben wollte ich mich erkundigen, ob man Sie ins Krankenhaus gebracht hat.«
»Nein, ich bin so ziemlich unverletzt«, erwiderte Betti. »Aber das Kind …«
Es war Andrea natürlich nicht entgangen, dass Betti ein kleines Mädchen in den Armen hielt, das sich fest an sie drückte.
»Ist