Mörderischer Rollback. Heide-Marie Lauterer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heide-Marie Lauterer
Издательство: Bookwire
Серия: Vera Roth
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783946435105
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aus dem Hänger und noch ein paar Schritte auf dem Weg. Der Tierarzt schaute uns stirnrunzelnd zu, sein Blick bedeutete nichts Gutes. Er deutete auf APs rechtes Vorderbein. „Mal auf hartem Boden antraben“, sagte er, aber schon nach zwei, drei Trabtritten nahm er das Kommando zurück. „Genug! Es reicht.“ AP lahmte, das sah sogar ich. Noch ein Blick, ein paar Handgriffe, dann kam die Diagnose: „Sehnenschaden vorne rechts“, sie hätte des Ultraschalls nicht bedurft. Doch der Tierarzt bestand darauf. Nach einer Viertelstunde wussten wir Bescheid: „Strenge Boxenruhe, kein Transport, dann langsam wieder Schritt. In ein, zwei Monaten können Sie wieder reiten.“

      Ich hielt den Anbindestrick in der Hand, den ich eigentlich der neuen Besitzerin hatte übergeben wollen, kämpfte gegen die Wolken in meinem Kopf und den Schmerz in meinem Nacken, wusste nicht, was tun. „Am besten wäre, wenn Sie das Pferd hier auf dem Hof stehen lassen“, sagte Doktor Abnemer zu mir. „Rufen Sie mich an, wenn Sie meine Hilfe brauchen.“ Ich nickte, unfähig etwas zu sagen, geschweige denn einen klaren Gedanken zu fassen.

      In diesem Augenblick kam Janic mit seiner Stute an der Hand durchs Hoftor. „Hat er sich verletzt?“, fragte er neugierig. „Sieht böse aus! Habt ihr euch das Kennzeichen gemerkt?“

      „Irgendwas mit HP wahrscheinlich!“, sagte ich schroff. Was sollte die Frage – darauf konnte ich gut verzichten, doch er gab keine Ruhe: „Das reicht bestimmt nicht – die wollen es genau wissen! HP! Wie viele Motorräder gibt es in Heppenheim denn? Das ist wie eine Anzeige gegen Unbekannt – die kannst du knicken.“

      Wahrscheinlich hatte Janic sogar recht, aber mich störte seine Wichtigtuerei; ich hatte ihn nicht um seine Meinung gefragt. In diesem Augenblick war mir alles egal, auch die Anzeige, mir ging es nur um Alles Paletti. Er hatte Schmerzen und durfte sich nicht bewegen. Was sollte ich mit ihm anfangen? Verkaufen konnte ich ihn jetzt nicht mehr und der Weg zurück auf den Leierhof war uns ebenfalls verbaut. Selbst wenn seine Box noch frei gewesen wäre, hätte ich sie nicht bezahlen können.

      Janic tippte mir auf die Schulter und sagte: „Das ist Perle.“ Er deutete auf die zierliche Stute, die neben ihm stand. „Ich will Perle in den Offenstall stellen. Wenn du willst, frag ich Robert, ob du ihre Box haben kannst.“

      Hatte ich richtig gehört? Janic bot mir eine Box an?

      „Und was soll sie kosten?“, fragte ich vorsichtig.

      „100 Euro“, sagte er.

      „Was?“ Ein Drittel billiger als die Boxenmiete auf dem Leierhof? Am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen.

      „Siehst du!“, sagte Joey. „Er wird wieder, Vera! Ein bisschen Geduld, und den Rollback kriegen wir drei auch noch hin.“

      Lydia schaute von mir zu Joey und dann wieder zu mir und sagte mit einem süffisantem Unterton: „Ach, dann bleibt ihr also hier? Kaufen will ich ihn natürlich nicht mehr“, setzte sie hinzu.

      Spin

      Die einzige, die dem Unfall etwas Gutes abgewinnen konnte, war Maxi. Sie war wie umgewechselt, redete wieder freundlicher mit mir, machte mir keine Vorwürfe wegen des Unfalls. Von unserer neuen Wohnung bis zur Go-West-Ranch war es mit dem Auto nicht weit, ich würde sie zwei, drei Mal bringen können. Sie hatte jetzt wieder eine Aufgabe, dachte ich, und konnte die Matheaufgaben, die ihr die Gehirnwindungen verknoteten, für ein paar Stunden vergessen. „Englisch-Vokabeln kann ich auch bei AP in der Box lernen, da haben wir beide was davon“, sagte sie. Ich musste schmunzeln, das war echt Maxi, wenn es um AP ging, konnte sie sogar Vokabeln etwas abgewinnen.

      Am nächsten Morgen betrat ich pünktlich um Neun mein Homeoffice. Ich gab die Hoffnung nicht auf, neue Schreibaufträge zu bekommen, deshalb fuhr ich als erstes meinen PC hoch. Es war mir schon einige Male passiert, dass potentielle Kundinnen ihre Anfrage wieder zurücknahmen, wenn ich mich einen oder zwei Tage später gemeldet hatte.

      Doch an diesem Morgen hätte ich mir besser etwas anderes einfallen lassen sollen, denn kaum hatte ich meine Mails aufgeklickt, war es mit dem Arbeiten vorbei. „Hoppe hoppe Reiter, wenn er fällt dann schreit er, fällt er in den Graben, fressen ihn die Raben. Da brauchst du gar nicht mehr reinzufallen, du steckst schon mitten drin im Sumpf, du blöde Ziege. Bist ja schon vergiftet und halb verwest. Vergiss deinen Helm nicht! Und: Weiterhin viel Spaß beim Ponyfüttern. Das Futter schmeckt hoffentlich noch? Ein alter Bekannter.“

      Ich fühlte mich wie bei meinem ersten Spin, mir wurde schwindelig und ich wünschte mir nur, dass das Drehen aufhörte. Doch so einfach war es nicht – auf AP hatte ich ja nur die Beine ausstrecken und ‚whoa‘ sagen müssen, aber hier? Um diesen Spin zu beenden, erforderte andere Mittel. Aber welche? Es war doch nur ein alter Kinderreim, warum wühlte er mich so auf? Mir wurde heiß, vor meinen Augen flirrten Schlieren, die mich daran hinderten, in der Spur zu bleiben. Einfach löschen? Joey drückte anonyme Nachrichten sofort weg, kein Wunder, er hatte als Security-Mann und Türsteher gejobbt und jede Menge Drohungen erhalten. Warum machte ich es nicht auch so? Oder lieber den Absender auf „SPAM“ stellen? Aber war das eine gute Idee? Den Spamordner musste ich ja auch kontrollieren, falls sich ein lukrativer Auftrag dorthin verirrt hatte. Besser nicht löschen, dachte ich und verschob die Mail ins Archiv. Vielleicht brauchte ich sie noch für die Polizei. Für die Polizei? Wenn aber wider Erwarten doch mein ehemaliger Kollege Helmut dahintersteckte? Ich wollte ihn nicht verpetzen, außerdem war ich gar nicht sicher, ob ich ihn nicht zu Unrecht verdächtigte. Wenn nötig musste ich die Angelegenheit persönlich mit ihm klären.

      Um frische Luft zu schnappen, ging ich auf die Terrasse. Dort stand eine Umzugskiste mit Krimskrams, vollgestopft mit alten Pferdebüchern á la ‚Longieren aber richtig‘, ‚Das kleine Reitabzeichen‘, ‚Vorsicht Giftpflanzen‘ und mit Briefen und Postkarten meiner Freunde und Freundinnen. Ich hatte die originellsten aufgehoben, z.B. die Kunstpostkarte ‚Der behexte Stallknecht‘ von Baldur Grien, einem Maler aus der Barockzeit, sie kam vermutlich von Helmut. Auf der Karte war ein feister Stallknecht zu sehen, der in voller Länge hinter einem listig zurückschauenden Hengst lag. Mein Kollege hatte Humor, wenn auch einen ziemlich schwarzen. Er hatte sich öfter über mich geärgert, weil ich zehn Minuten früher Schluss gemacht hatte, um in den Stall zu gehen, und er hatte Angst vor Pferden. Eine kleine Warnung vor den Gefahren, die im Stall auf mich lauerten.

      Ich hob die Plane auf, die ich über die Kiste gelegt hatte und nahm ein Fotoalbum mit Kinderbildern in die Hand. Manche Fotos hatten sich aus den Ecken gelöst, als erstes fiel mir ein Faschingsfoto aus den 1980er Jahren von mir und einem etwas älteren Jungen in die Hand, die Farben hatten einen Blaustich. Wir waren beide verkleidet, er als Indianer mit Häuptlingsfederschmuck, acht oder neun Jahre alt. Ich trage ein mit Borten verziertes Indianerkleid und eine schwarze Perücke mit Zöpfen und einem Stirnband, aus der eine Feder ragte, war drei oder vier Jahre alt und schaue treuherzig und stolz zu ihm auf. Auf dem zweiten Foto war er ein paar Jahre älter, ein kräftiger Junge mit Stoppelhaaren und zerrissener Hose. Er hielt ein Beil in der Hand, vor ihm lag ein Berg Holzscheite; das Foto war bei meinen Onkel im Odenwald aufgenommen worden. Doch die Fotos berührten mich eigentümlich, ich kam nicht von ihnen los. Im ersten Augenblick wusste ich nicht, wer der Junge war. Ich kramte so lange in meiner Erinnerung, bis es mir wieder einfiel: Der Junge war mein Vetter, der eine Zeitlang bei uns gelebt hatte. Er musste kurz nach der zweiten Aufnahme aus meinem Leben verschwunden sein. Er war einfach weg gewesen und ich hatte nie mehr wieder etwas von ihm gehört. Was wohl aus ihm geworden war? Mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich niemanden mehr nach ihm fragen konnte, meine Eltern waren vor fünf Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen und meine Großeltern waren schon länger tot. Es gab nur noch wenige Menschen, die mich von Kindheit an kannten.

      Weil ich ein Geräusch an der Haustür hörte, legte ich das Foto auf den kleinen Metalltisch. Die Balkontür öffnete sich, Maxi kam zu mir heraus, öffnete ihre Trinkflasche, trank ein paar Schlucke und sagte: „Ziemlich heiß heute.“ Sie griff nach dem Foto, das ich auf den kleinen Tisch gelegt hatte. „Wer ist das?“, fragte sie neugierig.

      „Mein Vetter Patrick, ich habe ewig nicht mehr an ihn gedacht, ein uraltes Foto, ich habe es gerade