Je länger ich grübelte, desto wacher wurde ich. Helmut, fuhr es mir durch den Kopf. Mein Kollege aus dem Forschungsprojekt, er hatte sich öfter über mich geärgert. Weil ich keine Zeit für einen Cappuccino im Star-Coffee hatte oder für Spaghetti Arrabiata beim Stehitaliener, mit integriertem Ablästern über ungeliebte Kollegen? Aber warum sollte mir Helmut ausgerechnet mitten in der Nacht so eine Nachricht schreiben? Nein, das sah ihm nicht ähnlich. Ob ich Joey morgen die Mail zeigen sollte? Lieber nicht! Er würde darüber lachen, da war ich mir sicher. Du bist doch immer so cool, Vera, warum regst du dich so auf? Also gut: Weg damit! Als ich die Mail auf meinem Fon gelöscht hatte, wurde ich ruhiger und schlief noch einmal ein.
Über AP hätte ich mir keine Sorgen zu machen brauchen. Er marschierte routiniert auf die Rampe, hielt schnurstracks aufs prallgefüllte Heunetz zu und fing an, Halme heraus zu rupfen. Ich drückte die Laderampe nach oben, steckte den Bolzen in die Vorrichtung, horchte, bis ich AP genüsslich kauen hörte. Plötzlich erfasste mich eine Welle von Traurigkeit, ich ließ die Schultern hängen und blieb einfach stehen.
Joey, der schon dabei war, den Motor anzulassen, kam noch einmal zurück. Er fasste mich mit beiden Händen bei den Schultern, drehte mich zu sich um und sagte: „Alles Paletti, Vera!“ Lautes Kläffen schreckte uns auf. Joey löste die Umarmung und beugte sich zu Käpt’n Nemo hinunter, der ihm liebevoll die Wange ableckte; Joey kraulte ihn hinter den Ohren. Dann öffnete er die Wagentür und Nemo sprang auf den Rücksitz.
Wenige Minuten später ging es auf der Autobahn Richtung Weinheim. „Hat es geklappt gestern, mit dem TÜV?“, fragte ich.
„Wieso gestern? Übermorgen!“, sagte Joey. Ich atmete tief durch und fühlte nach meiner Silberkröte. Sie soll dir helfen, hatte Maxi gesagt. In dringenden Fällen, dieser hier war es! Bitte Kröte, hilf mir, schickte ich ein Stoßgebet in den Krafttierhimmel: Lass uns gut ankommen.
Eingeklemmt zwischen zwei LKW zockelten wir schweigend bis zur Ausfahrt Weinheim, dann fuhren wir auf dem Zubringer Richtung Odenwald. Käpt’n Nemo hatte sich auf dem Rücksitz zusammengerollt und schnarchte. Nach kurzer Fahrt ging es durch den Saukopftunnel. In der Ebene hatte die Luft nach Staub und Abgasen geschmeckt, hinter dem Tunnel wurde die Luft frischer, uns empfingen sanfte Hügel, Wiesen und blühende Apfelbäume. Ich öffnete das Seitenfenster, atmete die würzige Morgenluft und entspannte mich. Wir näherten uns APs neuem Zuhause, er würde es hier gut haben. Joey hatte mir versprochen, dass er ihn zusammen mit seinen Pferden Cloud und Storm auf eine Koppel stellen würde. Blieb nur zu hoffen, dass der Plan aufginge, AP konnte ziemlich kratzbürstig werden, wenn ihm ein Wallach den Rang streitig machte.
Joey lenkte den Pickup über einen Bahnübergang, der Hänger holperte über die Schienen, hinter uns hörte ich AP unruhig stampfen. Er wieherte aufgeregt und augenblicklich kehrte meine Anspannung zurück. „Nur noch die kleine Straße durch den Wald, dann kommt die Ranch“, sagte Joey. „Da gibt es keinen Gegenverkehr.“ Wie auch, dachte ich, die einspurige Straße war ja schon für unser Gespann zu eng. Ein entgegenkommendes Fahrzeug hätte ausweichen müssen, aber links neben der Straße ging es steil bergab und rechts wucherte eine dichte Brombeerhecke.
Die Straße schlängelte sich durch einen lichten Buchenwald, dann kamen die Wiesen, Nebel stieg auf und in den Strahlen der aufgehenden Sonne glitzerte der Tau. ‚Mornin’ has broken‘ sang Cat Stevens im Oldie-Sender, aber der Song, der früher mein Herz weit gemacht hatte, drang heute nicht zu mir durch. Auf einmal fühlte sich alles so künstlich an. Alles existierte ohne mich, der Song, die Natur, die aufgehende Sonne, ob ich hier oder woanders war, schien völlig gleichgültig. ‚Halt an, dreh um‘, hätte ich am liebsten gerufen. ‚Wir kommen nicht weiter, und zurück auch nicht, es hat alles keinen Zweck‘. Doch ich zwang mich ruhig zu bleiben.
Eine Kurve, dann noch eine, die einspurige Straße verengte sich noch mehr. Abrupt nahm Joey den Fuß vom Gaspedal – Bremsen quietschten, Benzingestank drang durchs offene Fenster, er riss das Lenkrad herum. Ich wurde hart nach vorne in den Sicherheitsgurt geschleudert, hörte Motorenknattern, drehte mich mühsam um, konnte gerade noch ein schweres Motorrad erkennen, das in der Kurve verschwand. Mit einem Satz war Joey draußen. Mein Nacken schmerzte, ich löste den Gurt, öffnete zitternd die Wagentür. Der Hänger hing mit einem Rad über der Böschung. AP wieherte.
„Shit!“ Joey zerrte an dem Bolzen der Verriegelung, immer wieder rüttelte er an dem Metallteil, doch es rührte sich nicht. „Der Kerl hat uns den Weg abgeschnitten!“ Wir versuchten, den Hänger auf die Straße zu schieben. Nach einer Viertelstunde vergeblicher Schufterei gaben wir auf.
„Hey!“ Ein Mann tauchte plötzlich hinter dem Hänger, in Arbeitsjeans und Cowboystiefeln mit einem Halfter in der Hand. „Ihr seid in den Graben gefahren.“ Es klang wie eine Feststellung. „In den Graben, fressen ihn die Raben“, summte er abwesend vor sich hin, während er um den Hänger herumlief und an der Tür rüttelte.
„Wir schieben das Ding auf die Straße“, sagte er zu Joey, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Er kam mir irgendwie bekannt vor, doch ich konnte mich nicht erinnern, wo ich ihn schon einmal gesehen hatte.
„Mach noch schnell noch ein Foto!“, sagte Joey zu mir. „Besser ist besser.“ Doch weil AP ängstlich schnaubte, und von einem Huf auf den anderen trat, ließ ich das Fon der Tasche stecken. Ich musste ihn beruhigen, das war wichtiger als ein Foto. Durch das Seitenfenster fütterte ich ihn mit Karottenstückchen, die mir Maxi gestern Abend noch gerichtet hatte. Er nahm sie mir Stück für Stück aus der Hand und wurde ruhiger. Ich sah, dass er auf allen vier Beinen stand. Gottseidank! Er schien nichts gebrochen zu haben.
Die beiden Männer machten sich an die Arbeit, doch der Hänger bewegte sich keinen Zentimeter. Zu dritt schafften wir es dann irgendwie, den Hänger wieder flott zu machen, bis zum Hof waren es nur noch ein paar Minuten. Wir boten unserem Helfer an, einzusteigen, doch er winkte ab. „Muss noch schnell bei meiner Kleinen vorbei“, sagte er und griff sich das Halfter, das er über den Außenspiegel des Pick-ups gehängt hatte. „Bis später.“
Ich kletterte auf den Beifahrersitz und Joey drehte den Zündschlüssel um. „Kennst du den Mann?“, fragte ich.
„Er hilft auf der Go-West-Ranch aus. Macht alles, was anfällt.“ Jetzt fiel es mir wieder ein, – es war derselbe Typ, mit dem sich Maxi neulich unterhalten hatte. Er sah aus wie der Popstar Prince, oder dessen älterer Bruder. „Er heißt Janic“, sagte Joey.
„Sollen wir die Polizei anrufen?“, sagte ich, als der Hof in Sicht kam.
„Polizei? Lieber nicht!“
„Was?“
„Keine Polizei, – der Hänger hat keinen TÜV mehr.“
„Aber es war Fahrerflucht!“, sagte ich wütend. Mein Nacken schmerzte und etwas drückte auf meine Herzgegend.
„Komm, mach schon, wir müssen uns beeilen“, sagte Joey. „Lydia hat den Tierarzt auf 8 Uhr bestellt, er wartet bestimmt schon auf uns.“
„Wir müssen ihr doch von dem Unfall erzählen?“
„Abwarten! Zuerst die Tür“, sagte Joey, „dann sehen wir, ob mit AP alles in Ordnung ist und dann können wir immer noch …“ Er unterbrach sich mitten im Satz und deutete mit dem Kopf nach vorne auf die Hofeinfahrt. „Dumm gelaufen“, sagte er. Dort stand Lydia im nagelneuen Westernoutfit samt Stetson neben ihrem Motorrad. An ihren grünen Krokolederstiefeln klapperten blitzende Rädchensporen, groß wie Kuchenteller.
Joey stieg aus, schaute sich um. Von Janic und seinem Werkzeug keine Spur. Joey zögerte nicht eine Sekunde und sagte zu Lydia: „Die Rampe klemmt, hast du mal einen Hammer?“
„Lass sehen“, sagte Lydia und ging um den Hänger herum. Keine Ahnung, wie sie es fertigbrachte, jedenfalls lockerte sich der Bolzen nach wenigen