Selbst wenn wir alle diese Hindernisse überwinden und zeigen könnten, dass die fundamentalen physikalischen Unbestimmtheiten bewirken, dass einem Akteur mehrere Handlungsalternativen offenstehen, gäbe es schließlich immer noch die Sorge, dass durch diese Unbestimmtheiten bloß der Zufall in das menschliche Verhalten eingeführt wird, aber nicht der freie Wille. Würde sich der Indeterminismus im Zufall erschöpfen, wäre es unklar, wie genuin freie Entscheidungen zwischen vorhandenen Optionen möglich wären, im Gegensatz zu bloß zufälligem Herauspicken. Wie zum Beispiel Carl Hoefer bemerkt:
„Aus Gründen, die als erster Kant begriff, hilft der Indeterminismus auf der mikrophysikalischen Ebene nicht weiter. Die Zufälligkeit, die sich, wenn überhaupt, nur bei Mikrophänomenen findet, scheint nicht für den freien Willen „Platz zu schaffen“, sondern ersetzt eine hinreichende physikalische Ursache nur durch den (zumindest teilweise) blinden Zufall.“25
Die vorliegende Herausforderung für den freien Willen ist daher gewaltig, ganz gleich, ob die zukünftige Physik den Determinismus rechtfertigen wird oder nicht.
Die Herausforderung des Epiphänomenalismus
Die dritte Herausforderung für den freien Willen entsteht auch dann, wenn die ersten beiden Herausforderungen zufriedenstellend beantwortet werden können. Auch sie lässt sich als ein Argument mit zwei Prämissen zusammenfassen:
Prämisse 1: Der freie Wille erfordert die Kontrolle eines Akteurs über seine oder ihre Handlungen; diese Handlungen dürfen nicht bloß durch nichtintentionale Prozesse, sondern müssen durch die relevanten mentalen Zustände verursacht werden, insbesondere durch die Absichten des Akteurs.
Prämisse 2: Aus wissenschaftlicher Sicht ist alles, was ein Akteur tut, vollständig durch nichtintentionale Prozesse verursacht; die Absichten des Akteurs sind höchstens Nebenprodukte der zugrundeliegenden physikalischen Ursachen.
Die erste Prämisse gibt unsere dritte Bedingung für den freien Willen wieder: die Bedingung kausaler Kontrolle. Die zweite Prämisse drückt die These aus, dass das Verhalten des Handelnden eine rein physikalische Ursache habe: So etwas wie „mentale Verursachung“, das heißt Verursachung durch die mentalen Zustände des Handelnden, gebe es nicht. Diese geistigen Zustände seien bestenfalls Nebenprodukte der zugrundeliegenden physikalischen Prozesse, sogenannte „Epiphänomene“, die selbst keine kausalen Wirkungen haben. Ich werde diese These „Epiphänomenalismus“ nennen. Wenn wir die beiden Prämissen miteinander verbinden, gelangen wir offensichtlich zu folgender Konklusion:
Konklusion: Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es keinen freien Willen.
Die erste Prämisse, die Bedingung kausaler Kontrolle, habe ich bereits verteidigt. Aber warum sollte man die zweite Prämisse, die Epiphänomenalismus-These, akzeptieren? Wenn ich beabsichtige, meine Hand zu heben und entsprechend dieser Absicht handle, ist es dann nicht offenkundig wahr, dass die Handlung durch meine Absicht verursacht ist und nicht durch etwas Anderes? Vielleicht gibt es eine Hintergrundgeschichte dazu, wie mein Gehirn und mein Körper diese Prozesse auf einer neuronalen Ebene verwirklichen, aber die Handlung ist, wie es scheint, dennoch unter meiner Kontrolle. Meine Absicht, und nichts anderes, ist der kausale Ursprung der Handlung; das nehmen wir zumindest normalerweise an.
Es gibt jedoch eine einflussreiche Überlegung, die unsere gewöhnlichen Intuitionen bezüglich mentaler Verursachung in Bedrängnis bringt, das sogenannte „Argument der kausalen Exklusion“. Ein prominenter Vertreter dieses Arguments ist der Philosoph Jaegwon Kim, aber auch die neurowissenschaftliche Skepsis, die sich in jüngster Zeit gegen die Willensfreiheit richtet, stützt sich implizit auf die Grundidee dieses Arguments.26 Es wird für den Moment genügen, wenn ich es kurz zusammenfasse. Das Argument geht von zwei Prinzipien der Kausalität aus, die aus einer wissenschaftlichen Weltsicht nur schwer zu leugnen sind; und es leitet aus ihnen die negative Schlussfolgerung ab, dass es keine mentale Verursachung geben kann. Gehen wir diese Prinzipien kurz durch.
Das erste Prinzip besagt, dass die physikalische Welt „kausal abgeschlossen“ ist: Alles, was in der Welt geschieht, muss letztlich eine physikalische Ursache haben. Es gibt keine Geschehnisse, die nicht physikalisch verursacht sind. Anzunehmen, es gebe solche Geschehnisse, hieße, übernatürliche Vorgänge in der Welt zu postulieren. Die Vermeidung eines solchen Postulats ist wesentlicher Bestandteil einer wissenschaftlichen Weltsicht.
Das zweite Prinzip verbietet die überflüssige Zuschreibung von Ursachen. Es besagt: Wenn wir eine vollständige Ursache für eine gegebene Wirkung identifiziert haben, also eine Ursache, welche die Wirkung vollständig erklärt, dann dürfen wir diese Wirkung nicht auch noch auf eine zweite, angeblich ebenso vollständige, konkurrierende Ursache zurückführen, die exakt zur selben Zeit eintrat. Die Annahme einer solchen zweiten Ursache liefe darauf hinaus, eine unglaubwürdige Form kausaler Überdeterminierung zu postulieren. Wenn zum Beispiel ein bestimmtes Erdbeben die vollständige kausale Erklärung für den darauffolgenden Tsunami ist, hat es keinen Sinn, den Tsunami gleichzeitig auch noch auf eine weitere Ursache zurückzuführen. Wenn das Erdbeben für die Erklärung des Tsunami ausreicht, gibt es für eine zweite Ursache, kausal gesehen, nichts weiter zu tun. Es ist zu betonen, dass es hier nicht um frühere Ursachen geht. Natürlich wird es frühere Ereignisse gegeben haben, welche das Erdbeben selbst verursachten und die somit indirekt zur Verursachung des Tsunami beitrugen, zum Beispiel gewisse tektonische Verschiebungen. Das Prinzip der nicht-unnötigen Überdeterminierung verbietet nur die Zuschreibung konkurrierender gleichzeitiger Ursachen. Kim nennt dies das „Prinzip der kausalen Exklusion“.
Falls wir die beiden Prinzipien – kausale Abgeschlossenheit und kausale Exklusion – akzeptieren, lässt sich die Schlussfolgerung nicht vermeiden, dass immer dann, wenn jemand eine Handlung ausführt, ein physikalischer Vorgang im Gehirn und Körper der handelnden Person die Ursache sein muss, und nicht die Absicht der Person. Da die Handlung nicht aus heiterem Himmel erfolgt, wie ein übernatürliches Geschehnis, muss sie irgendeine Ursache haben. Aber das Postulieren einer Ursache, die nicht physikalischer Natur ist, wie etwa einer mentalen Ursache, würde eines der beiden Prinzipien verletzen. Es würde entweder das Prinzip der kausalen Abgeschlossenheit verletzen, nämlich dann, wenn wir darauf beharrten, dass menschliche Handlungen ohne eine physikalische Ursache stattfinden können; oder es würde das Prinzip der kausalen Exklusion verletzen, falls wir nämlich die Auffassung vertreten, dass menschliche Handlungen neben und über ihre vollständigen physikalischen Ursachen hinaus auch separate, ebenso vollständige mentale Ursachen haben.
Um beide Hörner dieses Dilemmas zu vermeiden, die Annahme übernatürlicher Ursachen auf der einen und die Annahme unnötiger kausaler Überdeterminierung auf der anderen Seite, müssen wir zu dem Schluss kommen, dass alles, was ein Handelnder tut, durch einen physikalischen Vorgang im Gehirn und Körper der Person verursacht ist. Was dann anscheinend keinen Spielraum für irgendwelche kausalen Leistungen ließe, die von den Absichten der handelnden Person erbracht werden könnten. Das Ergebnis hiervon ist der Epiphänomenalismus: Die Absichten und anderen mentalen Zustände des Handelnden sind kausal untätig; sie bringen keine genuinen kausalen Wirkungen hervor. Kausale Wirkung gibt es ausschließlich auf der physikalischen Ebene.
Befürwortet wurde der Epiphänomenalismus auch von mehreren Neurowissenschaftlern, obwohl sie sich dabei nicht ausdrücklich auf das gerade von mir zusammengefasste philosophische Argument stützen. So schreibt beispielsweise der Neurowissenschaftler und Autor Sam Harris:
„Habe ich mich bewusst für Kaffee statt Tee entschieden? Nein. Die Entscheidung wurde für mich durch Ereignisse in meinem Gehirn getroffen, die ich, als der bewusste Zeuge meiner Gedanken