Otto Schily, ab 1984 für die Grünen im Flick-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags, hat in seinem Buch Politik in bar (1986) zusammengerechnet, welche Beträge in welche Taschen gesteckt wurden. Von 1969 bis 1980 habe der Flick-Konzern für den Politikerkauf die stattliche Summe von 26 Millionen D-Mark ausgegeben. Davon gingen 15 Millionen D-Mark an Politiker der CDU/CSU. 6,5 Millionen Mark sackten Politiker der FDP ein. 4,5 Millionen D-Mark nahmen Politiker der SPD vom Flick-Konzern an. Allein das CSU-Oberhaupt Franz Josef Strauß habe 1,16 Millionen D-Mark in bar erhalten, dazu »Sonderzahlungen« in unbekannter Höhe. An den CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl gingen, Sonderzahlungen wiederum nicht gerechnet, 665.000 D-Mark, ebenfalls in großen Scheinen. Der FDP-Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff kassierte, so steht es in den Akten des Untersuchungsausschusses, 1,1 Millionen, eventuelle Sonderzahlungen blieben unbekannt. Es ging dem Konzern und seinem Chef Friedrich Karl Flick im Wesentlichen darum, mithilfe geschmierter Politiker die bei Aktienverkäufen und Wiederanlage des Erlöses fälligen Steuern von knapp unter einer Milliarde D-Mark nicht zu zahlen. Das klappte. Die DDR-Führung war dank Kanter und Wolf dabei stets auf dem letzten Stand.
Wie das lief, schildert der Vorsitzende Richter des Oberlandesgerichtes Koblenz, Joachim Vonnahme, 1995 in der Begründung seines auffallend milden Urteils gegen den Spitzenspion. Kanter, im Bonner Flick-Büro von 1974 bis zu dessen Schließung im Jahre 1981 an vorderster Front im Einsatz, war erst lange nach dem Ende der DDR im Jahre 1994 festgenommen und gleich wieder auf freien Fuß gesetzt worden. »Während der gesamten Dauer seiner Tätigkeit im Bonner Büro der Flick-Gruppe«, so der Text des weggeschlossenen Urteils, »hatte der Angeklagte ferner Einblick in die Vergabe von Geldern an Politiker und Parteien, insbesondere zur Wahlkampfunterstützung. An Spenden des Unternehmens bis zu einer Höhe von 10.000 DM wirkte er unmittelbar dergestalt mit, daß er zu Anfang eines Jahre eine Vorschlagsliste mit einem Gesamtvolumen zwischen 100.000 und 200.000 DM erstellte und sie der Konzernspitze vorlegte. Soweit diese die Vorschläge genehmigte, nahm der Angeklagte die entsprechenden Einzelanweisungen vor. Wenngleich er an der Zuteilung größerer Spendenbeträge, die sich die Konzernleitung in Düsseldorf allein vorbehalten hatte, nicht selbst mitwirkte, hatte er gleichwohl gesprächsweise auch davon Kenntnis. Von letzteren, später als die ›Flick-Affäre‹ bekanntgewordenen Vorgängen wußte er auch, daß die ›Spendenbeträge‹ teilweise nach außen verschleiert über gemeinnützige Einrichtungen an die Parteien und Politiker flossen und der Flick-Konzern so unrechtmäßig einen Großteil der Gelder als Steuererstattungen zurückerhielt.«
Vonnahme weiter: »Über die im Rahmen der beschriebenen Tätigkeit erlangten Kontakte und Erkenntnisse berichtete der Angeklagte der HVA. Mündlich informierte er seinen Instrukteur Dr. Krüger etwa über Kontakte zu Beamten und Politikern – vornehmlich aus CDU und FDP – und deren Einschätzungen zu politischen und wirtschaftspolitischen Themen, über Verbindungen zu Journalisten, Organisationen und Institutionen sowie über berufliche und politische Probleme, über Vorkommnisse in dem Bonner Büro der Flick KG und über die von ihm persönlich sowie von der Konzernspitze vorgenommenen Spendenaktionen an Politiker und Parteien. […] Von besonderer Bedeutung erschien ihm [dem MfS, D. K.] dabei die Spendentätigkeit des Flick-Konzerns, über die der Angeklagte bereits vor den Veröffentlichungen in westlichen Medien berichtete. Aufgrund der nachrichtendienstlichen Informationen des Angeklagten, ergänzt durch entsprechende Veröffentlichungen im Nachrichtenmagazin ›Der Spiegel‹, vermochte es sich schon früh ein Gesamtbild von Entstehung und Entwicklung der ›Flick-Affäre‹ zu verschaffen. Gerade dieser Komplex schien die Einflußnahme der Wirtschaft auf politische Entscheidungsprozesse in besonderem Maße zu bestätigen. Die Berichte hierüber wurden denn auch innerhalb der HVA nicht, wie das vom Angeklagten zuvor gelieferte Material, an die für die Auswertung üblicherweise zuständige Abteilung VII, sondern direkt an die Leitungsebene der HVA gegeben. Der hohe Stellenwert, den der Operativvorgang in dieser Zeit hatte, wird auch dadurch deutlich, daß sich Leitende Mitarbeiter der HVA mehrfach mit dem Angeklagten trafen.«
Kanter blieb Stasi-Spitzenquelle, selbst als er 1981 den Posten in der Flick-Stabsstelle verlor; der Konzern machte das Lobbybüro an der Bonner Hausdorffstraße beim Aufplatzen der Spendenaffäre dicht. Eine Flick-Abfindung von 320.000 D-Mark in der Tasche, zog Kanter einen Hintergrundinformationsdienst für Topleute in Wirtschaft und Politik auf und quartierte sich im Haus neben der Spiegel-Redaktion an der Welckerstraße ein. Nachrichtendienstliche Delikatessen bekam Ostberlin von »Fichtel« auch aus dessen neuem Büro geliefert, zum Beispiel dieser Güte: Wolfgang Schäuble, der spätere Innen- und Finanzminister, der als Bundestagspräsident an die protokollarisch zweithöchste Stelle in der Bundesrepublik aufstieg, habe durch Zeugenmanipulation und Anstiftung zur Falschaussage massiv gegen Recht und Gesetz verstoßen. Jedenfalls bezeugt dies der 1981 ebenfalls entlassene Flick-Manager von Brauchitsch. Vor seiner ersten Vernehmung durch den Flick-Untersuchungsausschuss des Bundestags habe ihn Anfang 1984 Schäuble, damals in seiner Funktion eines Geschäftsführers der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, um ein persönliches Gespräch gebeten. »Wir sollten uns möglichst an einem vertraulichen Ort treffen«, berichtet von Brauchitsch in seinem Buch Der Preis des Schweigens, seiner Rechtfertigungsschrift. »[…] das Büro Kanter schien mir für diesen Zweck bestens geeignet. Schäuble redete auf mich ein: Der Kanzler bitte mich inständig, jetzt keinen Fehler zu machen und Michael Kohlhaas zu spielen. Ich brauchte mich doch gar nicht so genau zu erinnern. Wir stünden unmittelbar vor einer Amnestie, dann sei ohnehin Schluss mit dem ganzen Zirkus. Ich habe meine Verteidigung daraufhin in einigen Punkten zurückgenommen.«
Im Büro Kanter, ausgerechnet. Auf Abhören und Mitschnitt vertraulicher Gespräche verstand sich »Fichtel« ja. Schäuble, mutmaßlich von unheilvollen Ahnungen über Ostberliner Mitwisserschaft seiner mannigfachen Aktivitäten am Rande oder neben der Legalität getrieben, hatte also Gründe, gleich nach der Wiedervereinigung die Vernichtung sämtlicher Stasi-Unterlagen zu fordern. Bürgerrechtler der DDR stoppten Schäuble; Kanter landete aufgrund der so gesicherten Akten vor Gericht. Das bekam kaum einer mit. Das Verfahren in Koblenz, in vier Wochen durchgezogen, fand als Geheimprozess statt, in seinen wesentlichen Teilen war Publikum nicht zugelassen. Das Machtkartell der geschmierten Politiker und Parteien der alten Bundesrepublik, also CDU/CSU, SPD und FDP, schaffte es auch nach der deutschen Einheit, den Fall Kanter vor den Wählern klein zu halten. Ein meisterliches Gemeinschaftswerk der Vertuschung.
Spionagechef Wolf zollte professionellen Respekt. »Als Adolf Kanter im Frühjahr 1994 dann doch verhaftet wurde, blieben die in solchen Fällen üblichen Triumphmeldungen über die Enttarnung eines weiteren ›Topspions‹ aus«, merkt er in seinen Memoiren an. »Die sonst so auf Öffentlichkeit bedachte Bundesanwaltschaft hielt sich zurück. Die Behandlung dieses Falls unterschied sich bemerkenswert von vergleichbaren Verfahren, etwa dem endlosen Spektakel des Prozesses gegen Karl Wienand. Das Hauptverfahren wurde binnen eines Monats durchgezogen. Es fand praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Einige Journalisten wurden erst später auf den Fall aufmerksam und wunderten sich, mit welcher Diskretion er über die Bühne gebracht worden war. Während des Verfahrens wurde Kanter nie in die Verlegenheit gebracht, sein umfangreiches Wissen über Interna der Regierungsparteien und ihre Verbindungen zur Industrie,