Der Schützling. Dirk Koch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dirk Koch
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Зарубежная публицистика
Год издания: 0
isbn: 9783801270292
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D. K.] der HVA überhaupt. 1.727 Informationen gingen auf ihn zurück, was durchschnittlich sieben Meldungen pro Monat entspricht«. Aus langen Gesprächen mit dem einstigen HVA-Chef (der Wolf von 1952 bis 1986 war) berichtete Müller-Enbergs dem Autor: »Markus Wolf hat den Kanter bewundert«, kaltblütig, diszipliniert sei Kanter gewesen, präzise aus Ostberlin zu steuern.

       Spendensammler Kanter an Daimler-Vorstand Schleyer: »Wegen unserer Wünsche an Ihr Haus wird sich Herr von Brauchitsch sicher in absehbarer Zeit mit Ihnen in Verbindung setzen.«

      In den geheimen Heerscharen des Markus Wolf war Agent Kanter einzigartig. Von der Gründung der Bundesrepublik an bis zum Fall der Mauer lieferte »Fichtel«, so sein Stasi-Deckname, Informationen nach Osten. Er war einzigartig, weil unter all den Stasi-Agenten allein Kanter es gelang, westdeutsche Politiker zu schmieren, sie durch Mitwisserschaft bei Zahlungen, die in die Millionen gingen, zu verpflichten und gefügig zu machen. Einzigartig, weil er es schaffte, Politiker quer durch die bundesdeutschen Parteien nicht etwa mit Mitteln aus der kargen Devisenkasse der DDR, sondern mit dem großen Geld westdeutscher Kapitalisten zu kaufen.

      Einzigartig vor allem aber, weil er so viel belastendes Wissen über die korrupten politischen und wirtschaftlichen Eliten der alten Bundesrepublik erlangt hatte, dass er unantastbar, ja unverwundbar wurde.

      Kanter schadete dem System der BRD nicht allein durch Weitergabe sensibler militärischer, wirtschaftlicher oder politischer Informationen. Die lieferte er auch: über die Verfilzungen der Unionsparteien mit Großkonzernen, über Organisation und Personal der gesamten Bundesverwaltung und des Bundeskriminalamts, über die NATO-Panzer der 1990er-Jahre und das Innenleben des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, über marktnahe Forschung und Entwicklung in der Mikroelektronik, über die Einschätzungen der westdeutsch-sowjetischen Beziehungen durch das Bundeskanzleramt oder über elektrische Antriebe für Kampffahrzeuge.

      Kanter fügte der Bundesreplik Deutschland, dem DDR-Hauptgegner, weit schlimmeren, weil strukturellen, Schaden zu. Der Stasi-Agent im Bonner Flick-Büro war in streng vertraulichen Zirkeln des Konzerns dabei, war Mittäter und Mitwisser, wenn der Flick-Wirtschaftsgigant durch illegale Spendenmillionen für CDU, CSU, SPD und FDP das innere Gefüge der bundesdeutschen Demokratie beschädigte. Mit seiner wirtschaftlichen Macht und seinen Schmiergeldzahlungen hat der Flick-Konzern die Ablösung und die Bildung von Bundesregierungen beeinflusst, so den Sturz des SPD-Kanzlers Helmut Schmidt und die Machtübernahme durch CDU-Kanzler Helmut Kohl.

      Nicht in einem einzigen Rechenschaftsbericht der Parteien ist der Flick-Konzern als Spender aufgeführt. Dabei hatte das Bundesverfassungsgericht 1979 mit einem Urteil die Gefahr bannen wollen, anonyme Großspender könnten auf längerfristige Ziele oder Einzelentscheidungen einer Partei einwirken und so Einfluss auf die staatliche Willensbildung gewinnen. Dem Verfassungsgebot, dass die Parteien über die Herkunft ihrer Mittel öffentlich Rechenschaft zu geben haben, komme zentrale Bedeutung zu: »Es zielt darauf ab, den Prozess der politischen Willensbildung für den Wähler durchschaubar zu machen und ihm offenzulegen, welche Gruppe, Verbände oder Privatpersonen durch Geldzuwendungen auf die Parteien politisch einzuwirken suchen. Der Wähler soll über die Herkunft der ins Gewicht fallenden Spenden an politische Parteien korrekt und vollständig unterrichtet werden und die Möglichkeit haben, daraus Schlüsse zu ziehen.« Stasi-Agent Kanter half im Flick-Konzern kräftig mit, die bundesdeutschen Wähler unwissend zu halten und zu täuschen.

      Wolfs Topmann aber richtete noch größeres Unheil an. Mit seinem umfassenden Wissen über Schmiergeldzahlungen brachte er die westdeutsche Politikerkaste dahin, dass sie bereit war, ihre Macht durch eine umfassende Amnestie für sich und ihre Geldgeber zu missbrauchen, die Verfassung zu brechen, Ideale und Werte – konservative zumal – zu verraten, den Rechtsstaat schwer zu verletzen, ja außer Kraft zu setzen. Und alles aus lauter Angst, Kanter könnte auspacken.

      Gleichheit vor dem Gesetz? Unabhängigkeit der Justiz? Nicht so wichtig, wenn es galt, die eigene Gier vor der Öffentlichkeit zu verbergen und beim Wahlvolk die eigene Käuflichkeit zu vertuschen. Wann immer ein Staatsanwalt oder ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss mit richterlichen Befugnissen die Krallen nach Kanter ausstreckten, sie wurden von hoher und höchster Stelle im staatlichen Machtapparat gestoppt.

      Kant er war der Schützling der Bonner Republik.

      ZWEITES KAPITEL

       Die haben bei dem gehorcht

      An einem frühen Nachmittag im Frühsommer 1985 klingelte es an der Haustür. Peter Probst öffnete, zwei Unbekannte standen vor seinem Büro im modernisierten Altbau Schumannstraße 15 in der Bonner Südstadt. Die beiden Männer stellten sich vor: Sie seien vom Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln. Ob sie reinkommen dürften?

      Die Verfassungsschützer wussten einiges über ihn, wie Peter Probst dem Autor berichtete: Er sei ja der Sohn des früheren Vizepostministers der DDR, Gerhard Probst, sei im Juli 1961 kurz vor dem Bau der Berliner Mauer in den Westen geflohen, arbeite jetzt als freier Journalist, spezialisiert auf DDR-Themen und Deutschlandpolitik. Die beiden hätten noch eine Weile um den eigentlichen Zweck ihres Besuchs herumgeredet. Etwa, was er ihnen über seinen Schwager Klaus Giersch sagen könne, der für die Stasi arbeite und in Dresden für die Wartung von Funktionärsautos zuständig sei, seinerzeit auch für den Dienstwagen des KGB-Manns Wladimir Putin? Ob er mit dem Schwager noch in Verbindung stehe? Probst verneinte. Die Männer kamen endlich auf den Punkt: Probst habe Kontakt zu einem gewissen Adolf Kanter.

      »Ich solle mich vorsehen, haben die mich gewarnt«, so Probst heute. »Da gebe es ein Risiko für mich. Ich solle mich mit dem nicht einlassen und nicht für den arbeiten. Kanter sei auffällig geworden. Ich solle besser den Kontakt abbrechen.«

      Sein Kontakt zu Kanter habe sich zufällig ergeben. 1984 von Berlin über München nach Bonn gekommen, habe er, Probst, für seine journalistische Arbeit ein Büro gesucht und im Aushang des Pressehauses I, Am Tulpenfeld, ein Angebot für die Welckerstraße, nahe bei Kanzleramt und Bundestag, entdeckt. Nach telefonischer Verabredung habe er sich dort mit dem Anbieter – dem Lobbyisten Adolf Kanter – getroffen. Der habe zwar viel Zeit für ein Gespräch gehabt, aber keinen Büroraum – der Aushang wäre wohl ein Trick gewesen, um Bonn-Neulinge kennenzulernen.

      »Kanter hatte viel Interesse an meiner Biografie und meinem Themenschwerpunkt DDR, spielte den Antikommunisten, fragte nach meinen Kontakten in der DDR, ob ich ihm entsprechende Kontakte vermitteln könnte, was ich ablehnte. Er bot mir an, für seinen Info-Dienst zu schreiben, und bat um meinen Lebenslauf nebst Arbeitsproben.« Kanter habe dann Wochen später schriftlich sein Angebot zur Mitarbeit (es sei »der DDR-Sektor schon voll abgedeckt«) zurückgezogen. Seinen Kanter überlassenen Lebenslauf fand Probst nach der Wende in Kopie in seiner Stasi-Akte wieder, »den hat der sofort an das MfS weitergeleitet«.

      »Wo her wussten die Kölner Abwehrleute vom Verfassungsschutz von meinem Treffen mit Kanter?«, fragt Probst. »Ich habe mit niemandem darüber gesprochen. Die haben bei dem gehorcht. Ganz klar, die wussten, was der trieb, die hatten Kanters Büro verwanzt.«

      Wenn stimmt, was Probst berichtet – und es gibt keinen vernünftigen Grund, an der Korrektheit seiner Aussagen zu zweifeln –, dann hätte Stasi-Agent Kanter zehn Jahre früher enttarnt und abgeurteilt werden können. Dann wäre er nicht erst 1995 nach Zufallsfunden in Stasi-Akten vor Gericht gestellt worden und in einem Geheimprozess vor dem Oberlandesgericht Koblenz mit einer auffallend milden Bewährungsstrafe von zwei Jahren davongekommen. In den Jahren des Kalten Krieges und des angespannten Verhältnisses zur DDR waren die Urteile in der BRD wegen Landesverrats wesentlich härter – Günter Guillaume, dem Spion in Willy Brandts Kanzleramt, hatten die Richter 13 Jahre, NATO-Spion Rainer Rupp zwölf Jahre Knast aufgebrummt.

      1985 hätten der damalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heribert Hellenbroich, CDU, der für den Verfassungsschutz zuständige Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann, CSU, der Koordinator der bundesdeutschen Geheimdienste, Kanzleramtsminister Wolfgang Schäuble, CDU, und dessen Chef, CDU-Bundeskanzler