Die neueren Forschungen zur kulturellen Erinnerung beziehen die Erinnerung an diese Katastrophen ein, nehmen sie aber meist nicht als den zwingenden Ausgangspunkt aller geschichtswissenschaftlichen Reflexion. Sie setzen an bei den grundsätzlichen Gesetzmäßigkeiten und Möglichkeiten von Erinnerung. Der Mensch kann gar nicht anders, als aktiv – „konstruktiv“, auch „imaginativ“ – umzugehen mit seiner Vergangenheit wie mit seiner Gegenwart. Darin gründet seine Fähigkeit, den Andrang der Wirklichkeit nicht nur passiv zu erdulden, sondern ihm gestaltend zu begegnen. Die Drohung von Hunger, Armut, Not und Leid zwingt ihn, sich dieser Fähigkeit auch zu bedienen. Wie ihm das dann ausschlägt – in zeitweiligem Glück oder in Zerstörung und Grauen, in notdürftigem Überleben oder spürbarer Besserung der Lebensbedingungen –, das ist jeweils offen.
Das Konzept der „Schlüsselfigur“, auf dem die Vortragsreihe MYTHEN EUROPAS aufbaut, konzentriert sich im Feld der Erinnerungsforschung auf die Entstehung erinnerungsprägender Gestalten: Welche Gegenwart hat die Menschen disponiert für eine Schlüsselfigur? Zum „Schloss“ welcher Wünsche und Bedürfnisse bietet sie den „Schlüssel“? Auf welche Sehnsüchte und Ängste gibt sie eine Antwort? Da Schlüsselfiguren, wie oben skizziert, die verschiedensten kognitiven und psychischen Anliegen bündeln, könnten sie auch Zugänge für geschichtswissenschaftliche Fragestellungen eröffnen, die anderwärts nur unter Schwierigkeiten zu Material und Quellen kommen. Die Geschichte der Emotionen findet hier Ansatzpunkte; ebenso die Psychohistorie mit ihrer schwierigen Suche nach den unsteten Grenzen zwischen ‚bewusst‘ und ‚unbewusst‘ oder mit ihrer Analyse epochal typischer Verdrängungen. Figuren besitzen meist eine kaum zu beherrschende Mehrdeutigkeit. Sie wirken auf den Betrachter über mehr Kanäle, als die bewusste Vernunft übersehen kann. Und die strategische Absicht, die sie in Dienst zu nehmen versucht, wird oft genug durch höchst unerwartete Deutungspotentiale überrascht. Während die Geschichtsbücher meist von den Siegern geschrieben werden, kann in die Schlüsselfiguren auch eingehen, was die Unterlegenen umtreibt. Während unsere Geschichtsquellen meist das Weltbild der Elite dokumentieren, können Schlüsselfiguren auch Welterfahrung der ungebildeten Bevölkerungsschichten aufnehmen.
Schlüsselfiguren sind Gebilde der kollektiven Imagination. Aber sie werden das nur, indem sie zahlreiche Individuen bewegen. So weist dieses Konzept auch einen Zugang zu den einzelnen, konkreten Menschen. In ihnen überschneiden sich die Linien der verschiedenen Strukturen. In ihnen überlagern sich die Rückkopplungsschleifen der verschiedenen Systeme. An sie richten die „Rahmen“ verschiedener Lebenskreise unterschiedliche und oft genug auch gegensätzliche Anforderungen. So abhängig und ausgeliefert sich der konkrete Einzelne auch immer fühlen mag gegenüber dem „großen Ganzen“ und seinen Widersprüchen: nur in ihm fallen die tausend einzelnen Entscheidungen – meist alltäglich, manchmal außergewöhnlich, allemal von höchst unterschiedlicher und unabsehbarer Reichweite –, deren Impulse die Geschichte bewegen. Historiker wie Georges Duby und Arno Borst10 haben immer wieder daran erinnert, dass hier der Ausgangspunkt aller Geschichtsforschung liegt.
Was der Historiker als komplexen Wechselzusammenhang verschiedener Strukturen, Systeme und Prozesse rekonstruiert, bezieht vieles ein, das den Zeitgenossen unsichtbar blieb – den Akteuren wie den Opfern. Der erlebende, erleidende und gestaltende Mensch nimmt das, was ihm widerfährt, in Mustern des Narrativen oder Dramatischen wahr: als Geschichten von Leid und Glück, Angst und Hoffnung, Konflikt, Bedrückung und Bewahrung, als ein Drama widerstreitender Gewalten und Personen, in dem jede Figur ihre Ziele verfolgt, ohne das Ganze zu überblicken. Für Aby Warburg haben sich die Linien des Dramas konzentriert zu einem immerwährenden Kampf zwischen der Versuchung zu magischem Rückschlag und Selbstverlust auf der einen und der Selbstbehauptung durch rationale Distanzierung auf der anderen Seite. Das Pathos, mit dem er an dieses Drama immer wieder erinnerte, war genährt von eigenem Erleben: seinem geistigen Zusammenbruch und seinem siegreichen Kampf über die Erkrankung. Den Zugriff der Kunstgeschichte weitete er aus auf Gegenstände des religiösen Umgangs und Werke der „Volks“- und Gebrauchskunst. Sie alle entzifferte er als Symptome des welthistorischen Dramas; in den Werken der großen Kunst sah er aktive Kombattanten. Eine ähnliche Konfliktlinie liegt der populär gehaltenen, aber gleichwohl bemerkenswerten Skizze einer Kunstgeschichte Europas zugrunde, die Kenneth Clark 1969, unter dem noch spürbaren Schock der 30er und 40er Jahre, als Zivilisationsgeschichte schrieb; ihr erstes Kapitel heißt ‚The Skin of our Teeth‘,11 „mit knapper Not davongekommen“. Das Wahrnehmungsmuster des Dramas ist über die Leitmetapher vom „Theatrum Mundi“ bis zurück in die griechische Antike bezeugt. In den neueren Wissenschaften vom Menschen taucht es an den verschiedensten Stellen wieder auf, von Erving Goffmans Soziologie der Rolle über Hans Urs von Balthasars Theodramatik bis zur Ethnologie Victor Turners. Die Voraussetzungen, die ein Drama bedingen, und die Mächte, die es durchherrschen, können die verschiedensten Formen annehmen, im sichtbaren Zentrum stehen doch immer reflektierende und handelnde Figuren. Von daher fällt noch einmal Licht auf die Schlüsselfiguren einer Epoche: Als Figuren helfen sie dem Menschen, seine eigene Existenz als die einer Figur im Drama der Gegenwart zu begreifen; und umgekehrt tritt ihm in ihnen als Schlüsselfiguren zeitgenössisch Dringliches in der Gestalt fassbarer dramatischer Figuren entgegen.
Das Erkenntnisinteresse der Vortragsreihe ist also ein genuin historisches. Die Antworten müssen im Raum einer Geschichte der Imagination gesucht werden, in dem Literatur-, Kunst- und Religionshistorie mit der Geschichtswissenschaft ins interdisziplinäre Gespräch kommen. Von den herkömmlichen Motiv- und Stoffgeschichten der Literatur- und Kunstwissenschaftler unterscheidet sie die Frage nach der historischen Funktion; von den unter Historikern bevorzugten Verfahren die Absicht, auch die Hoffnungen, Sehnsüchte, Ängste und das Unbewusste der Menschen als historische Faktoren ernst zu nehmen. Die Überlieferungs- und die Forschungslage wird für diese Fragestellung oft nicht günstig sein; im Allgemeinen verbessern sich diese Voraussetzungen aber mit dem Fortschreiten in der Zeit. Die einzelnen Beiträge suchen sich auf jenen Zeitraum zu konzentrieren, in dem die jeweilige Figur den qualitativen Sprung zu überregionaler, exemplarischer Ausstrahlung gemacht hat. Jeder Band wird die Vorträge zu einer bestimmten Epoche zusammenfassen. So müsste sich im Lauf der Jahre eine aufschlusskräftige Reihe von Epochenphysiognomien ergeben.
Die Beiträge sind konzipiert als „Wintervorträge“ an der Katholischen Universität Eichstätt. Entsprechend der Tradition dieser Reihe wenden sie sich an ein breites Publikum. Dies gilt auch für die Publikation dieser Vorträge. In sieben Etappen – über sieben Wintersemester – soll der Zeitbogen von der Antike bis zum zwanzigsten Jahrhundert abgeschritten werden. Entsprechend sind sieben Bände geplant: zusammengenommen sollen sie einen Längsschnitt durch die Geschichte der europäischen Imagination legen.
SCHLÜSSELFIGUREN DER ANTIKE
Der erste Band gilt der Antike. Sie hat Europa nicht nur mit einem Reservoir mythopoetischer Figuren versorgt, die über zwei Jahrtausende hin immer aufs Neue aktualisiert werden konnten. Sie hat auch, mit der griechischen Philosophie wie mit der patristischen Theologie, jene grundsätzliche Mythen-Kritik in Angriff genommen, in deren Folge und gegen deren Absicht die Figurenbildung der kollektiven Imagination ihre eigenständige und unzerstörbare Macht erwies: So entschieden das Christentum auch die antiken Mythen teils als heidnisch abgedrängt, teils durch allegorische Interpretation ihrem alten Kontext entwendet und assimiliert hat, so wenig gelang es ihm, die mythenbildenden Energien stillzustellen. Dass die altererbten Figuren und Geschichten