SCHLÜSSELFIGUREN DER IMAGINATION
Eine besondere Kraft wirkt in diesem Bereich aus der Artikulation von Erfahrung in Figuren und Geschichten. Indem die Menschen einander erzählten, was ihnen widerfuhr, wurde es überschaubar und so konnten sie es begreifen. Indem sie Kindern und Enkeln davon berichteten oder es niederschrieben, gaben sie nicht nur ihre Erfahrungen weiter, sondern auch ihre Arbeit an diesen Erfahrungen. Und indem die Nachgeborenen diesen Geschichten zuhörten, indem sie sie weitererzählten und in neue Bücher gossen, eigneten sie sich diesen Schatz geformter Erfahrung an und veränderten ihn zu eigener Weltkenntnis. Denn es zeichnet den Menschen vor den Tieren aus, dass er über ungleich mehr Erfahrungen verfügt als er selbst je machen könnte.
Figuren und Geschichten aber reichen die Erfahrungen früherer Generationen nicht einfach weiter, sondern unterwerfen sie der narrativen Arbeit. Bei jedem Erzählen und jeder Lektüre wird die Geschichte neu zur Diskussion gestellt: zu neuer Deutung, neuer Bewertung und verändertem Weitererzählen. Zudem tradiert das Erzählen ja nicht nur Vergangenes, es entwirft auch Zukünftiges und erprobt, was noch unbekannt ist, aber möglich werden könnte. Damit gerät die erinnerte Erfahrung unter die Macht schöpferischer Phantasie. Diese kann durchspielen, welche Möglichkeiten und Gefahren die Tradition im Angesicht gegenwärtiger Nöte und Herausforderungen bereithalten mag. Wenn etwa die Tragödien der Aischylos, Sophokles und Euripides bei den alljährlichen Dionysosfesten vor großer Volksversammlung aufgeführt wurden, dann vergegenwärtigten sie den Athenern nicht nur altbekannte Mythen. Sie boten ihnen auch ein unvergleichliches Medium, um sich im Stoff des allseits Bekannten die Probleme vor Augen zu fuhren, welche ihnen der rasche politische und soziale Wandel während ihres „klassischen“ Jahrhunderts zumutete.1 Die Übertragung in die altvertrauten mythischen Konturen verfremdete die aktuelle Problemlage. Das konnte dazu verhelfen, gegenüber dem rasch und mächtig Andrängenden Abstand und geistige Klarheit zu gewinnen. Manchmal presste es das Unbekannte freilich auch nur in alt vertrauten Stereotypen von fragwürdiger Passform. Allemal bezogen die Gestalten und Geschichten des Mythos jedoch das dringlich Neue zurück auf die religiösen und ethischen Fundamente des Gemeinwesens. Sie prüften das Tradierte auf seine Fähigkeit zu gegenwärtiger Aktualisierung, aber sie konfrontierten auch das Aktuelle mit dem Maß der Tradition. Im Umschreiben bekannter Stoffe erkundete die Freiheit der Dichter neue Möglichkeiten, trieb deren Konsequenzen heraus und legte sie dem öffentlichen Urteil vor.
Die Verarbeitung von Erfahrung durch Figuren und Geschichten besitzt eine weitere Eigenheit: sie spricht nicht nur zur abwägenden Vernunft und zu der das Mögliche auslotenden Imagination der Menschen, sondern auch zu ihren Emotionen. Wer eine Geschichte, wer die Schicksale der Hauptfiguren mitvollzieht, bleibt nicht unbeteiligt. Er wird hineingezogen, wird mitgerissen zu Lust und Schmerz, Neugier und Schrecken, Sehnsucht und Angst, Stolz und Wut, Mitgefühl und Abwehr und anderem mehr. Auch solche Emotionen sind letztlich verarbeitete Erfahrung – allerdings von einer sehr viel älteren und anderen Art als die kulturelle Tradition. Sie haben sich in einer Jahrmillionen währenden Evolution herausgebildet, an der die Menschheit nur in einem späten, kurzen Zeitstück teilnahm. Sie verarbeiten Erfahrung, insofern sie bestimmte elementare Chancen und Gefahren der Umwelt „wiedererkennen“ und das Tier oder den Menschen auf schnellstem Wege in eine Verhaltensbereitschaft versetzen, die sich im Verlaufe der Evolution bewährt hat. Wer in eine ängstigende Situation gerät, ist unwillkürlich „auf dem Sprung“; wer Neugier fühlt, wird näher gezogen; wer in Zorn gerät, stellt sich auf Angriff ein.
Die moderne Gehirnforschung lokalisiert die Emotionen in gattungsgeschichtlich besonders alten Teilen des Gehirns. Dazu stimmt eine gewisse Tendenz der Emotionen, „unwillkürliche“ Reaktionen zu veranlassen und also den „Umweg“ über die rationale, differenzierende Arbeit des Großhirns abzukürzen. Die Juristen sprechen dann von Handlungen „im Affekt“. Andrerseits haben auch die Emotionen die Evolution zum Säugetier, zum Primaten und schließlich zum Menschen mitvollzogen. In dem System ‚Gehirn‘ kooperieren alle Teile miteinander, ungeachtet ihres unterschiedlichen gattungsgeschichtlichen „Alters“. In solch einem System bleibt kein Teil unbetroffen, wenn andere Teile sich verändern. Die Emotionen des Menschen, wie weit auch immer ihre Wurzeln in vormenschliche Dispositionen zurückreichen, sind doch immer Emotionen des Menschen. Und diese Spezifizierung reicht noch weiter. Der Mensch ist, wie bereits erwähnt, von Natur aus ein Kultur-Wesen: er verfügt kraft Bewusstsein und Gewohnheit über mehr Erfahrungen, als er selbst gemacht hat. Zwar zählt die Ausstattung mit einem bestimmten Kreis elementarer Emotionen zweifellos zu den anthropologischen Universalien: alle Menschen haben sie gemeinsam. Aber die individuelle Ausbildung, die konkrete Auslösung und Auswirkung einzelner Emotionen wird doch stark von kulturellen und historischen Umständen geformt. Manches, was einem heutigen Bürger Westeuropas die Zornesröte ins Gesicht treibt, hätte einem deutschen Bauern des 13. Jahrhunderts den Gleichmut ebenso wenig gestört wie einem chinesischen Handwerker der Gegenwart. Manches, was einen Japaner mit tödlicher Scham erfüllte, ist einem Nordamerikaner kaum ein Achselzucken wert. Dies ist ein zentrales Thema der Historischen Anthropologie.
Der Umgang mit Figuren und Geschichten erfasst in besonderem Maße den ganzen Menschen: seine Erinnerung und seine Phantasie, seine Rationalität und seine Emotionalität, sein Bewusstsein und sein Unbewusstes. Die Beschäftigung mit Schlüsselfiguren der Imagination verspricht, Wege zu diesem ganzen Spektrum menschlicher Erfahrung zu öffnen. Eine Figur wird zur Schlüsselfigur der Imagination, indem sie Verstand, Phantasie und Emotion sehr vieler Menschen einer bestimmten Region oder sogar einer ganzen Epoche in Bewegung setzt. Von Bedeutung ist für dieses Konzept also nicht der Einfluss, den eine historische Gestalt durch ihr Handeln in der politischen oder sozialen Geschichte erzielt, sondern ihre Ausstrahlung im Raum des Imaginären. Wohl sind gewaltige historische Wirkungen ausgegangen von Benedikt von Nursia, der dem europäischen Ordensleben seine Form geschaffen hat, von Kaiser Justinian, der im ‚Corpus Iuris civilis‘ das römische Recht kodifizieren ließ, von Johann Gutenberg, der den Buchdruck mit beweglichen Lettern einführte, – aber keiner von ihnen hat eine größere Rolle im Raum der kollektiven Imagination gespielt. Umgekehrt können in diesem Raum sogar offenkundig fiktive Figuren eine große Eindruckskraft entfalten. Kraft ihrer Macht über die kollektive Imagination beeinflussen sie dann auch die politische und soziale Geschichte. Dichter wie Rudolf Borchardt oder Reinhold Schneider haben ohnehin immer gewusst, dass „die Schatten und großen Bilder in der Geschichte oft weit mächtiger wirken als die Menschen aus Fleisch und Blut“.2 Die neuere Forschung entdeckt sie als einen wesentlichen Teil jener „symbolischen Praxis“, die Ethnologen wie Clifford Geertz, Historiker wie Lynn Hunt und Literaturwissenschaftler wie Stephen Greenblatt beschäftigt.
Der Kreis ist also weit zu ziehen. Neben fraglos historischen Figuren, die – wie Karl der Große, Franz von Assisi oder Jeanne d’Arc – die kollektive Imagination erobert haben, und Gestalten von so zweifelhafter historischer Faktizität wie König Artus umfasst er auch poetische Neuschöpfungen wie Faust, Don Juan, Robinson Crusoe oder Dr. Jekyll & Mr. Hyde. Dazu tritt die neue Aneignung älterer mythopoetischer Figuren, wie sie um 1800 Prometheus, um 1900 Salome oder im 20. Jahrhundert Ödipus widerfahren ist, und der auffällige Wechsel in der imaginativen Erscheinung: bis ins 12. Jahrhundert wurde Christus bildlich vor allem als Richter und König vorgestellt; danach trat die Darstellung als Leidensmann am Kreuz in den Vordergrund.
Dass Schlüsselfiguren zu einer bestimmten Zeit die Imagination einer sehr großen Zahl von Individuen intensiv beschäftigt, ja – im Sinne Aby Warburgs – besessen haben, zeigt, dass sie in besonderem Maße Hoffnungen, Wünsche, Ängste oder Konflikte dieser Menschen bündeln. Daher will die Vortragsreihe MYTHEN EUROPAS an ihnen das Wechselspiel der Kräfte herausarbeiten, das im Raum der Imagination am Werke ist: Welche Hoffnungen, Wünsche, Ängste und Konflikte haben Menschen in eine bestimmte Figur projiziert und an ihrer Geschichte durchgearbeitet? Warum gewinnt gerade diese Figur zu dieser Zeit solch dringliche Aktualität? Welche Strategien der Idealisierung, Identifikation, Projektion, Kompensation, Abwehr provozierte, befriedigte oder kanalisierte sie in den Menschen?
UMFELD