Es entspricht nicht den Tatsachen, den Bau der Pyramiden als erpresste Dienstleistung zu bezeichnen. Die Bauern leisteten zwar Fronarbeit, doch sie wurden gut versorgt, bekamen Kleidung und Essen und kehrten drei Monate später, wenn die Nil-Überschwemmung vorbei war, zu ihren Familien und ihren Feldern zurück.
Verabschieden wir uns also von der jahrhundertelang beliebten Vorstellung, die Pyramiden seien das Werk von Steine schleppenden Sklavenarbeitern, angetrieben von den Peitschen brutaler Aufseher. Der Pyramidenbau galt als religiöses Gemeinschaftswerk, als eine Verherrlichung des Pharao, der Gott auf Erden war und nach seinem Tod zu den Göttern zurückging, seinem Volk aber verbunden blieb. In den Monaten der Nil-Überschwemmung bot der auch religiös motivierte Pyramidenbau den Bauern Arbeit und Brot. Die Namen von Bautrupps sind durch Inschriften überliefert. Sicherlich galt dies als eine besondere Ehre und Auszeichnung. Wären hier Sklaven, wie wir diesen Begriff heute verstehen, am Werk gewesen, hätte man sie nicht auf Stein verewigt.
Nicht unterschätzt werden sollte die jahrelange Vorbereitung, bevor überhaupt mit dem Bau der Pyramide begonnen werden konnte. Zunächst musste eine passende Baustelle am Ufer des Nils gefunden werden; die Pyramide ließ sich schließlich nicht irgendwo in den Sand setzen; sie wäre bei einem Gewicht von vielen Millionen Tonnen Gestein unweigerlich versunken. Es musste ein felsiger Untergrund sein, der das Bauwerk trug. Einen kurzen Kamelritt von Kairo fand man ihn: Gizeh.
Nun musste das gewaltige Felsplateau planiert werden, absolut eben, denn bei einem solchen geometrischen Bau würde sich die kleinste Abweichung bemerkbar machen. Dann wurde rund um die Grundfläche des Fundaments von 52.500 Quadratmetern eine rechteckige, exakt bearbeitete Pflasterung gelegt. Jede Seite misst 232,74 Meter und zeigt genau nach einer der vier Himmelsrichtungen.
Der größte Teil der Arbeit bestand dann im Transport der Steinblöcke. Nahezu 2,5 Millionen Quader, jeder mit einem Gewicht von etwa zweieinhalb Tonnen, mussten herbeigeschafft werden. Die Kalksteinblöcke kamen aus den Bergen auf der anderen Seite des Nils und mussten über den Fluss geschifft werden. Die Granitblöcke wurden sogar aus dem sechshundert Kilometer entfernten Assuan, auf dem Hochwasser des Nils, herangebracht. Einige der Granitblöcke wogen siebzig Tonnen, das entspricht dem Gewicht einer Eisenbahnlokomotive.
Eine perfekte Technik und hochentwickelte Werkzeuge wurden eingesetzt, um die Steinblöcke aus den Felsen zu lösen und in eine rechteckige Form zu meißeln. Doch wie wurden die riesigen Kalksteinquader bewegt? Wahrscheinlich wurden sie zunächst mit Hilfe von Seilen auf einen hölzernen Schlitten gehievt und festgezurrt. Über lose verlegte Balken in der Art eines »rollenden Systems« wurden sie zum Ufer gezogen, wo große Barken zum Übersetzen bereitstanden. Millimeter für Millimeter wurde geschoben, angehalten, ausgeglichen. Es erforderte unendliche Geduld, bis ein Stein die richtige Position auf dem Schiff hatte, damit die Gefahr des Kenterns gebannt war. Der Fährmann musste dann beim Übersetzen die Sandbänke des Nils sicher umschiffen.
Modell des Rampensystems, das wahrscheinlich beim Bau der Pyramiden angewandt wurde. (Museum of Science, Boston)
Vom anderen Ufer wurden die Steinblöcke dann aufwärts bis zum Bauplatz auf dem Felsplateau gebracht. Auf den polierten Platten einer zwanzig Meter breiten Baurampe, die stetig mit der Höhe der Pyramide wuchs, konnten dann die mit den schweren Quadern beladenenen Holzschlitten, deren Kufen eingefettet waren, relativ einfach nach oben gezogen werden. Vielleicht gab es auch mehrere dieser Rampen oder die Rampe wurde in Form einer Serpentine um die Pyramide herum zur Spitze geführt.
In zweihundert Schichten wurden die Steinquader übereinander getürmt, auf eine Höhe, die ein Wolkenkratzer mit vierzig Stockwerken erreicht. Abgeschlossen wurde der Gipfel der Pyramide mit einem Schlussstein, Pyramidon genannt, weil er selbst die Form einer kleinen Pyramide hatte. So groß und so schwer wie kein anderer Stein, reflektierte er mit seiner glänzenden Oberfläche die Strahlen der aufgehenden Sonne und bot so ein überwältigendes Naturschauspiel.
Die Setzung des Schlusssteins war Anlass zu einer feierlichen Zeremonie, einer Art Richtfest. Doch vollendet war die Pyramide damit noch nicht. Die gesamte Außenfläche der vier Pyramidenseiten wurde noch mit Deckplatten aus poliertem Kalkstein verkleidet. Sie waren so sorgfältig bearbeitet, dass sie in ihren Ausmaßen höchstens Millimeter voneinander abwichen, und wurden so dicht aneinandergesetzt, dass kaum Fugen sichtbar waren.
Doch wie wurde diese Verkleidung angebracht und befestigt? Noch immer sind sich die Fachleute nicht ganz sicher. Heute sind an der Großen Pyramide nur noch die Steine des Kernbaus zu sehen, so behauen, dass sie sich mit den nicht mehr sichtbaren Verkleidungssteinen verzahnen konnten.
Der letzte Arbeitsschritt war dann das sehr sorgfältige Schleifen und Polieren der Außenplatten. Die Pyramide sollte funkeln wie ein Kristall, glänzen im Licht der Sonne wie der Sterne.
IM INNEREN DER CHEOPS-PYRAMIDE
Der Eingang der Cheops-Pyramide liegt in 15 Meter Höhe, genau nach Norden. Er war sorgfältig vermauert, sollte für immer unzugänglich, später dann vergessen, nicht mehr auffindbar sein.
Vom Eingang führt ein rund einhundert Meter langer Gang schräg nach unten durch den Fels in eine Grabkammer, die unter der Pyramide aus dem gewachsenen Fels herausgemeißelt wurde. Dieser Gang im tiefen Inneren der Pyramide ist exakt auf den Zirkumpolarstern, den Drehpunkt des Himmelsgewölbes, ausgerichtet. Der Pharao, der sich auch als »irdischer Polarstern« verstand, dokumentierte damit seinen Wunsch und seine Hoffnung, von der Erde zum Himmel aufzusteigen und die Vergänglichkeit zu überwinden.
Ein zweiter, 38 Meter langer, sehr niedriger Gang führt im Innern von der Bodenfläche aus schräg nach oben. Er verläuft dann waagrecht und wird auch höher, so dass Menschen aufrecht gehen können. Dieser Gang endet in einer genau unter der Spitze der Pyramide gelegenen Kammer, zwanzig Meter über dem Boden. Sie ist mit Turakalkstein so gleichmäßig ausgewandet, dass sie wie aus dem Felsen herausgehauen erscheint. Eine Abzweigung verfolgt die ursprüngliche Richtung weiter. Doch sie endet in einer Art Sackgasse, und der unfertig gebliebene Boden der Kammer lässt vermuten, dass das Projekt schließlich aufgegeben wurde.
Die Erbauer haben sich dann wieder mit dem ursprünglichen, schräg emporsteigenden Gang beschäftigt. Sie führten ihn 42 Meter weiter schräg nach oben, allerdings jetzt als große Galerie mit einer Breite von über zwei Metern und einer Höhe von über acht Metern. Die Galerie – mit Mokkadam-Kalkstein ausgekleidet – öffnet sich über einem kleinen Vorraum zur eigentlichen, mit schwarzem Granit ausgewandeten Grabkammer, die wiederum fast genau unter der Pyramidenspitze liegt.
Um Grabräubern den Zugang zur Pyramide zu verwehren, hatten sich die Erbauer einiges einfallen lassen. Um den Eingang und die Gänge verschließen zu können, waren riesige Sperrblöcke so vorbereitet, dass sie nach der Beisetzungsfeierlichkeit heruntergelassen werden konnten. Trotzdem fanden die Grabräuber ihren Weg.
Der Granitsarkophag wurde ohne Deckel und leer aufgefunden. Keine Inschrift, kein Schmuck erinnert an den Gottkönig. Die Mumie des Cheops, sollte er tatsächlich in dieser Pyramide beigesetzt worden sein, blieb verschollen – Grabräuber sind womöglich den Wissenschaftlern und den Touristen zuvorgekommen. Sie haben die Mauern überwunden, haben die Fallsteine rechtzeitig abgestützt. Sie haben im Innern der Pyramide miniert, unbemerkt von den Wachen, oder hatten mit diesen Wachen, vielleicht auch mit den Priestern, einen Pakt geschlossen. Sie haben die Schätze weggeschleppt, die Mumie des Pharao vielleicht verschwinden lassen.
Wer gegen die Wände ruft, dessen Echo bleibt lange stehen. Die Granitquader in der großen Halle sind so tadellos aneinandergefügt, dass man weder ein Haar noch eine Nadel in die Fugen bringen könnte. Der Aufenthalt in der Pyramide ist beklemmend; er treibt den Schweiß aus den Poren. In einem früheren Baedeker-Reiseführer steht die Warnung: »Leidenden Personen ist der Besuch wegen der dumpfen, heißen Luft zu widerraten.« Doch ist man in der Königskammer nicht hermetisch abgeschlossen: Schmale Lüftungskanäle führen nach draußen, einer nach Norden zur Schattenseite, einer