Gewiss, Karl der Große war groß. Da er 1165 heilig gesprochen wurde, und man daher sein Grab kannte, besitzen wir heute noch Knochen von ihm. Karls rechtes Schienbein maß 43 cm, sein Oberschenkel 53 cm. Vom Scheitel bis zur Sohle brachte es der ganze Mann auf 182 cm, vielleicht auch ein wenig mehr. Er überragte damit um Haupteslänge die meisten seiner Mitmenschen.
Karl also war groß, groß an Leib und groß an Ruhm. Schon seine Zeitgenossen feierten ihn wie kaum einen anderen König; und die Nachwelt flocht ihm bis heute ihre Kränze. Wenigen ist Gleiches widerfahren – einem Alexander, einem Caesar oder einem Augustus. Zahlreiche Herrscher – beginnend mit Karls Enkeln über Ludwig XIV. und Napoleon bis hin in den verbrecherischen Größenwahn eines Adolf Hitler – erklärten ihn zu ihrem Vorbild, begehrten, ein „neuer Karl“ zu sein oder doch in legiti matorischer Absicht wie er der Vater eines von ihnen gestalteten Reiches, gar ganz Europas. Die deutsch-französische Aussöhnung nach 1945 geschah, ohne ans Mittelalter anzuknüpfen, im Zeichen Karls des Großen. Sein Name wurde zum Zeichen für Versöhnung, Friede und Eintracht, ähnlich wie es seinerzeit im wirklichen Leben war. Charles de Gaulle galt als „Karlist“. Selbst noch in die Niederungen der heutigen Spaßgesellschaft schleicht sich die Erinnerung an ihn: Den amerikanischen Rennläufer und Olympiasieger Carl Lewis nannten sie, als er noch startete, „Carl den Großen“, als ob jener Carolus Magnus nur hatte sprinten und springen können.
Die Slawen, die ursprünglich kein Königtum kannten, adaptierten seinen Namen für ihren Königstitel: So wie aus Caesar der „Kaiser“ wurde, wie Augustus zum Bestandteil des Kaiser- und Königstitels wurde, so eben Karl zu Krol. Jüdische Geschichtsschreiber des Mittelalters erkannten in diesem König den Förderer und Schirmherrn der Ihren. Zahlreiche Adelsfamilien beriefen sich auf Karl als ihren Vorfahren. Die Sage bemächtigte sich seiner. Über einhundert Beispiele sind allein aus Deutschland registriert – so viele wie von keinem zweiten Herrscher, um zunächst von den französischen Legenden und „Chansons de geste“, den französischsprachigen Karlsdichtungen des hohen Mittelalters, zu schweigen, wo er zum Stifter des Rittertums und zum gesegneten Kreuzritter avancierte.
„Von Karl dem Großen vernahmen wir manches Mährchenhafte“, so erinnerte sich Goethe, „aber das Historisch-Interessante für uns fing erst mit Rudolf von Habsburg an, der durch seine Mannheit so großen Verwirrungen ein Ende gemacht“.1 Sagen und Märchen hatten die Geschichte überwuchert. In der Tat, „gigantische Kräfte“ attestierte bereits der Marschall des Kaisers Otto IV., Gervasius vonTilbury, um 1200 seinem Karl;2 und bald kursierte auch die Geschichte vom „eisernen Karl“, welche die Brüder Grimm in ihre „Deutschen Sagen“ aufgenommen haben. Dieser „Karl war kühn, schön, gnädig, selig, demütig, stet, löblich und furchtlos“, ein wahrer Prachtkerl. Karls Wiederkehr am Ende der Zeiten wurde prophezeit; und selbst die magische Welt der Zauberer und Hexenmeister mochte auf ihn nicht verzichten. Himmelsbrief und Karlssegen gingen in Zauberbücher ein. Kaiser Karls Gebet schützte gegen Feuer und Wasser, Diebe und Räuber, Gespenster, böse Geister und gegen den Teufel selbst.
Wirklichkeit und Mythos flossen so im Karlsgedenken in eins und verschafften ihrem Heros eine posthume Wirkung, die jener zu Lebzeiten in keiner Weise nachstand. Wirklichkeit war auch sie, Wirklichkeit freilich auf einer anderen Ebene als der des verflossenen Lebens. Sie formte sich kontinuierlich aus und um und beherrschte durch Jahrhunderte die Vorstellungswelten, wirkte auf politische und soziale Ordnungsmuster, verlieh dem Handeln und den Zielsetzungen Gestalt und Richtung. Wie und warum war das möglich geworden? Was zeichnete diesen König und Kaiser und sein Nachleben aus? Was überhaupt wissen wir von ihm und seinen Taten? Nur vor dem Hintergrund seines realen Lebens wird sein heroisches Nachleben verständlich.
Karl der Große Skulptur von Hans Multscher, um 1427/30; Ulm, Rathaus
Dazu gehe ich in drei Schritten vor: Erstens gebe ich einen Überblick über Karls Leistungen; zweitens sind Beobachtungen zu Gedächtnis und Erinnern am Platze, da die Mythisierung, über die ich zu handeln habe, eine Erinnerungsfigur ist; drittens folgen Aspekte eben dieser Mythisierung auf drei Ebenen: auf derjenigen des Herrschers, derjenigen des Heiligen, sowie, wenn auch knapp, jener des Heros der Dichter und Literaten. Ich vergleiche dazu jeweils die Entwicklung im Westen und Osten des einstigen Karlsreiches zunächst im früheren, dann im hohen und späteren Mittelalter. Der Untersuchungszeitraum endet mit dem 15. Jahrhundert. Doch kann vieles nur angedeutet werden.
DIE TATEN
Karls Leistungen sind in der Tat eindrucksvoll. Geboren im Jahr 748, gestorben am 28. Januar 814, bestieg er in seinem einundzwanzigsten Lebensjahr den Thron, zog er – mit zwei Ausnahmen – Jahr für Jahr in den Krieg, eroberte er das Langobardenreich im Süden und Sachsen im Norden, besiegte er die Awaren in Pannonien, gewann er – nicht ohne Tücke – Bayern, Barcelona und die spanische Mark; Karl erneuerte das römische Kaisertum des Westens, schloss Verträge mit Byzanz und korrespondierte freundschaftlich mit Harun al Rashid, dem Kalifen von Tausendundeiner Nacht. Gelegentliche Misserfolge wie auf dem Feldzug nach Spanien im Jahr 778 können nicht über seine insgesamt erfolgreiche und dauerhafte, im Wesentlichen nach Osten und Süden gerichtete Expansionspolitik hinwegtäuschen. Karl war einer der großen Gewalttäter der Weltgeschichte. Seine Nähe war gefährlich. Seine Neffen verschwanden spurlos, als er ihrer habhaft wurde, gleich Tassilo und seiner gesamten Familie, die dieser Bayernherzog allzu vertrauensselig, schamlos getäuscht oder gewaltsam gezwungen aufforderte, am Königshof in Ingelheim zu erscheinen, wo sie festgenommen und abgeführt wurden. Der eigene Sohn, Pippin der Bucklige, landete in Klosterhaft. „Den Franken habe zum Freund, aber nicht zum Nachbarn“ warnten, wie Karls Biograf Einhard wusste,3 die Byzantiner vor diesem König.
Nicht minder wirksam als seine Kriege und Eroberungen nimmt sich Karls Bemühen um innere Reformen in seinem gewaltigen Reiche aus. Nur Umrisse können hier angedeutet werden. Doch auch sie helfen, die Heroisierung dieses Herrschers und ihre geschichtliche Wirkung recht zu deuten. Betroffen war alles: die Herrschafts- wie die Hofordnung, die Gerichtsbarkeit wie die Gesetzgebung, die Geistlichkeit wie Wissenschaft und Wirtschaft. Als Förderer und Schutzherr von Papsttum und Kirche ging Karl in die Geschichtsschreibung ein. Grundherrschaften, Markt- und Münzwesen wurden reformiert. Herren- oder Gewaltboten, sogenannte Missi dominici, sahen sich paarweise – ein Bischof, ein Graf – in feste Sprengel entsandt, um die regionalen Herrschaftsträger zu kontrollieren.
Gerne schreibt man Karl den einsichtsvollen Schutz der Freien durch die Rechtssprechung und zumal durch ihre Entlastung vom Militärdienst zu. Doch trifft das nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich vollendete Karl mit seinen Maßnahmen die Reorganisation des fränkischen Heeres, das nun die Bauernkrieger entpflichtete und nur noch aus Reiterkriegern bestand, während sich die Merowinger noch weithin auf Fußtruppen verlassen hatten. Damit war die für das Abendland charakteristische soziale Differenzierung in berittenen Kriegeradel und unadeliges Bauerntum eingeleitet, die dann im 12. Jahrhundert ihren Abschluss fand: eben zu jener Zeit – eine Ironie der Geschichte –, die Karl selbst auf den Gipfel des Mythos trug und ihn zum Erfinder des Rittertums erklärte. Gleichwohl, ein Hauch von Rechtssicherheit breitete sich aus, was dann nach Karls Tod ungerechte, Macht missbrauchende Richter umso unerträglicher machte. Wehmütig gedachte ein Paschasius Radbertus, einstiger Abt von Corbie, noch um 850 der gerechten Rechtsprechung seines Helden Wala, eines Vetters Karls des Großen, der in dessen Auftrag für den minderjährigen Kaiserenkel Bernhard Italien regiert und später im Dienst des Kaisers Lothar I. dort nach dem Rechten zu sehen hatte. Und der St. Galler Mönch Notker Balbulus häufte in seinen „Gesta Karoli Magni“ von 885 Exempel auf Exempel für Karls Gerechtigkeitsliebe. Der Heros bot das Gegenbild zur Wirklichkeit.
Es gab keinen Bereich des Lebens, der Herrschaft, der religiösen und geistigen Kultur, in dem Karl der Große nicht machtvoll und maßgebend eingegriffen, den er nicht reformiert und neu geordnet hätte. Die