Diese „mythische“ Wirkung ist offensichtlich in bestimmten Eigenschaften einer Gestalt begründet. Dennoch zeichnet sich immer wieder deutlich ab, dass ihre Rezeption gemäß dem jeweiligen Bedürfnis der Zeit völlig neue Akzente setzen kann. Historische Figuren etwa können Transformationen durchlaufen, die ihnen selbst unvorstellbar gewesen wären oder ihren Intentionen völlig zuwiderlaufen. Die Absichten des heiligen Franziskus beispielsweise sind relativ gut dokumentiert; im religiösen und politischen Klima späterer Zeiten mussten sie von den Franziskanern aber teilweise überspielt werden, um den Orden unter den geänderten Umständen überlebensfähig zu halten, ohne die Kontinuität mit dem Ordensgründer aufzugeben.
Der Wandel, dem manch andere Gestalt mit der Zeit unterworfen wurde, mag noch radikaler gewesen sein, nur dass wir oft wenig über die ursprüngliche historische Person wissen. Ein wesentlicher Bestandteil des mythischen Status scheint auch zu sein, dass die Schlüsselfigur für verschiedene gesellschaftliche Gruppen Verschiedenes bedeutet. Artus ist jeweils ein anderer für die Waliser, für England und für den Rest von Europa. Auf Martin, so Konrad Vollmann, beriefen sich einerseits die Menschen von Tours und Poitiers, andererseits die merowingischen Herrscher; seine Gestalt bleibt aber auch für nachfolgende Generationen bedeutungsträchtig, polyvalent und adaptierbar.
Betrachten wir die Gestalten, die wir aus dem Früh- und Hochmittelalter ausgewählt haben, nach ihrer Herkunft, so ergibt sich folgendes Bild: Ein antiker Herrscher, Alexander, dessen Bild sich im Mittelalter gegenüber demjenigen, das er selbst von sich zu entwerfen suchte, stark verändert hat – drei Gestalten des Neuen Testaments, Christus selbst sowie zwei Personen seiner unmittelbaren Umgebung, Jakobus und Maria, die neu ausgedeutet wurden – zwei Herrscher der Völkerwanderungszeit, Artus und Theoderich – ein heiliger Bischof aus derselben Zeit, Martin – Karl der Große als zentrale Herrscherfigur des Frühmittelalters – dann aus dem beginnenden Hochmittelalter Gottfried von Bouillon, Held des Ersten Kreuzzugs – und schließlich der heilige Franziskus, Gründer des Franziskanerordens. Dazu tritt die abstrakte Figur der Minnedame, die zunächst in der Lyrik ihren Platz hat.
Bei Gestalten aus dem Früh- und Hochmittelalter ist es unumgänglich, sich die Überlieferungsbedingungen klarzumachen. Die früh- und hochmittelalterliche Gesellschaft war, nach einer weitverbreiteten Auffassung, dreigeteilt: in Kämpfer, Beter und Nahrungsproduzierende, das heißt: Adel, Kirche und Bauern. Während der Epoche, von der hier die Rede ist, lag das Monopol der schriftlichen Überlieferung noch weitgehend in den Händen nur einer dieser drei Gruppen, der Kirche. Diese war natürlich in sich selbst nicht monolithisch. Zudem war ihre Hierarchie zum großen Teil mit Adeligen besetzt und ihr pastoraler Auftrag verpflichtete sie der bäuerlichen Bevölkerung. Dennoch bleibt es eine Tatsache, dass wir von volkstümlicher Überlieferung zu unseren Schlüsselfiguren aus dieser Zeit nur Mittelbares erfahren können. Der Adel selbst ergreift erst im Hochmittelalter in der Troubadourlyrik und in Versromanen das Wort.
Diese Problematik betrifft vor allem die frühe Überlieferung zweier unserer Figuren, Theoderich/Dietrich und Artus. Im Falle Theoderichs sind zwar die Fakten seiner Vita gut bezeugt und ebenso sein weitgehend negatives Bild in der kirchlichen Tradition. Der andere, mindestens ebenso wesentliche Strang der Überlieferung jedoch, sein Nachleben im Munde der germanischen Völker, ist zunächst nicht recht greifbar und lässt sich nur aus gelegentlichen Bemerkungen erschließen. Es ist aber sehr zu vermuten, dass seine Bewertung von der kirchlichen Tradition abwich und ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten gehorchte. Typisch für diese rein mündliche Form der Überlieferung ist die Reduzierung der Zeittiefe: So wird ein sehr viel früherer Herrscher aus demselben Geschlecht, Ermanarich, zu Theoderichs Onkel. Auch dass die Ostgoten nach ihren anfänglich großen Erfolgen unter Theoderich sich in Italien letztlich nicht halten konnten, dürfte das Bild von Theoderich beeinflusst haben; vielleicht hat das zu der Sage von Dietrich als Exilant geführt. Ferner scheinen in die Heldensagen schon früh übernatürliche und außermenschliche Elemente eingedrungen zu sein; Dietrichs Kämpfe gegen Riesen und Zwerge wären dann nicht erst eine Erfindung späterer Märchenepen. Jedenfalls war Dietrich zu dem Zeitpunkt, als ihn der Dichter des Nibelungenliedes in seinen Text einführte, für das Publikum bereits eine sehr bekannte Figur. Ihre Dimensionen können wir jedoch nicht ausloten, weil ihre Verschriftlichung bereits mit einer Verschiebung der Anliegen einherging, die mit der Gestalt verbunden wurden. Das Nibelungenlied selbst war ein ambitioniertes Unternehmen: die Einkleidung eines älteren Sagenkomplexes in eine neue höfische Form, ein literarisches Experiment mit moralischen Konsequenzen. Das musste unweigerlich zu einer gewissen Brüchigkeit und Ambiguität der Bewertung führen. So geriet auch Dietrich ins Schillern und wurde einer möglicherweise negativen Sicht ausgesetzt. Der literarische Erfolg dieses Experiments legte den zuvor sicher beweglichen Stoff in mancher Hinsicht fest. So wurde die dort geschilderte Episode im Leben Dietrichs für spätere Dichtungen kanonisch. Carola Gottzmann zeigt, wie unterschiedlich gleichwohl in der Folge das Bild Dietrichs in den Heldenepen und den Märchenepen ausfiel.
Vergleichbares lässt sich über die frühe Überlieferung zu Artus sagen, nur dass hier zeitgenössische Quellen völlig fehlen und auch die chronikalische Tradition eine längere Stufe rein mündlicher Überlieferung durchlaufen hat. Obwohl Artus nicht auf der Seite der germanischen Eindringlinge, sondern offenbar gegen sie stand – allerdings ist auch dies schon angezweifelt worden –, scheint die mündliche Überlieferung der Waliser und Bretonen über ihn ähnlichen Gesetzmäßigkeiten gefolgt zu sein: Man integrierte Sagengestalten in seinen Umkreis, die ursprünglich nichts mit ihm zu tun hatten, und führte übernatürliche Elemente ein. Wiederum verschoben sich mit den Verschriftlichungen auch die Absichten; das frühere Artusbild wurde verwischt und überlagert. Hier wurden jedoch zwei Verschriftlichungen kanonisch: die historisierende des Geoffrey of Monmouth und die epische des Chrestien von Troyes, die neben Geoffrey wohl auch auf bretonische Sagen zurückgriff und das märchenhafte Element stärker integrierte.
Auch die Überlieferung zu Karl dem Großen hat eine ähnliche Phase durchlaufen, die sich in den Chansons de geste widerspiegelt, auch wenn sie kürzer ausfiel und in einem Kulturraum stattfand, wo Schriftlichkeit in stärkerem Maße präsent war.
Demgegenüber ist für das Leben der mittelalterlichen Heiligen ein weit früheres Einsetzen der Schriftlichkeit und eine kontinuierliche schriftliche Tradierung charakteristisch, die gleichwohl ihren eigenen Transformationen unterworfen ist und sich oft gegenüber mündlicher Überlieferung als durchlässig erwies. Für die Erhebung zum Heiligen war es nämlich bereits im Frühmittelalter nötig, dass das Zeugnis einer Vita des Betreffenden vorlag. Schon von daher haben wir eine schriftliche Überlieferung aus der unmittelbaren Umgebung des heiligen Martin und des heiligen Franziskus von Assisi, deren Etablierung als Heilige offensichtlich schon zu ihren Lebzeiten abzusehen war.
Das Hochmittelalter bringt zwei grundlegende literarische Innovationen mit sich, die Troubadour- oder Minne-Lyrik und den höfischen Roman. In ihnen drückte sich ein neues Lebensgefühl des Adels in einem neuen Medium aus. Zwei unserer Gestalten sind eng mit diesen Innovationen verbunden. Der höfische Roman begann zwar mit einer neuen Verarbeitung antiker Stoffe, einschließlich der Abenteuer Alexanders des Großen, aber in seiner voll erblühten Form ist er unweigerlich mit dem Artusstoff verbunden. Das zentrale Moment der Troubadour-Lyrik dagegen, so Ingrid Kasten, ist der neue Frauenkult, die Verehrung der Minnedame. Da sie eine sich neu entwickelnde lyrische Konvention darstellt, fehlt dieser Gestalt zunächst ein narratives Moment. Auch ist sie vor allem von ihrer Wirkung auf das lyrische Ich her definiert und daher zwar in vieler Hinsicht festgelegt, aber auswechselbar. Die neu konzipierte Paarkonstellation der Troubadourlyrik greift jedoch bald über den lyrischen Rahmen hinaus und wird auch in narrativen Texten durchgespielt. Eine der einflussreichsten Darstellungen ist die Beziehung von Lancelot und Ginevra, mit der dieses Thema in den Artusstoff