Unsere Kollegen von der Spurensicherung knieten oder hockten im Vorgarten einer Villa, deren Vortreppe zum größten Teil weggesprengt war. Die Fassade sah aus wie nach einem Artillerie-Beschuss: Der Putz fehlte zum größten Teil, Fenster waren zerbrochen, Ziersäulen, Vordach und Erker zertrümmert, und der Rasen überseht mit Glasscherben, Gesteinstrümmern, staubigem Weinlaub und Putz.
„FBI?‟ Ein uniformierter Kollege sprach uns an, ein Captain des zuständigen Polizeireviers. Wir zogen unsere Dienstmarken halb aus den Brusttaschen. Er winkte ab. „Der Sprengsatz ging um kurz nach neun hoch.‟
„Was für ein Sprengstoff?‟, erkundigte sich Milo.
„Wissen wir noch nicht.‟ Zwei Kollegen in weißen Schutzmänteln trugen einen Leichensack aus dem Vorgarten. „Armer Kerl.‟ Der Cop machte eine bedrückte Miene. „Er muss sich in unmittelbarer Nähe des Explosionsherdes aufgehalten haben.‟ Mit einer Kopfbewegung deutete er auf den Leichensack. „Sieht scheußlich aus.‟
Milo zückte Notizbuch und Stift. „Der Hausbesitzer?‟
Der Cop nickte. „Paul Glendale. War Direktor der Jefferson Highschool in Benson Hurst.‟ Er schüttelte den Kopf. „Scheußliche Sache.‟
Zwei Männer in Zivil standen hinter der Hecke. Einer fotografierte das beschädigte Haus. Beide schienen mir weit über sechzig zu sein und waren nicht gekleidet, wie ich es von zivilen Polizisten gewohnt bin. „Wer ist das?‟
„Leute vom Bauamt‟, sagte der Captain. „Das Haus stand unter Denkmalsschutz.‟
Wir betraten den Kiesweg, der vom Bürgersteig zum Hauseingang führte. Überall Glasscherben und Trümmerteile. In einem Asternbeet lag ein zerbeulter Briefkasten. Zwei Sanitäter sprangen aus dem türlosen Eingang der Villa. Die Reste der Treppe waren nicht mehr zu benutzen. Zwei andere Sanitäter reichten eine Trage hinaus. Eine Frau im Morgenmantel lag auf ihr. Ihr Haar war nass.
„Die Ehefrau des Opfers‟, erklärte der Cop. Wir ließen die Sanitäter mit der Trage vorbei. Die Frau starrte apathisch in den Himmel. Ein Arzt folgte der Trage.
„Sie scheint nicht vernehmungsfähig zu sein‟, sprach ich ihn an.
„Nein. Sie steht unter Schock, ich musste ihr ein starkes Beruhigungsmittel spritzen.‟
Sie brachten die Trage zum Ambulanzwagen und schoben sie hinein.
George Bridger, der Chef unserer Spurensicherung, stand plötzlich hinter uns. „Hi, Jesse, hi, Milo – diese Neonazis sind gnadenlos. Wird höchste Zeit, dass wir ihnen das Handwerk legen.‟
„Klingt, als wärst du sicher, dass wir’s mit den gleichen Tätern wie in Coney Island zu tun haben‟, sagte Milo.
George machte ein grimmiges Gesicht. „Und mit den gleichen wie am Hudson Hafen – Nitroglycerin. Ein Unterschied diesmal allerdings.‟
„Mach’s nicht so spannend, George‟, sagte ich.
„Ich will mich noch nicht festlegen, aber es sieht so aus, als hätten sie diesmal keinen Zeitzünder benutzt, sondern einen Fernzünder. Aber wartet erst mal, bis ich mir die Splitter im Labor angeschaut hab.‟
Milo pfiff durch die Zähne. „Das hieße ja, sie hätten das Haus beobachtet ...‟
„... und die Sprengladung in dem Augenblick gezündet, als Glendale die Zeitung holte oder nach seinen Astern schaute.‟ George Bridger nickte. „Korrekt.‟
Die Vorstellung machte mich wütend. „Kaltblütiges Mörderpack! Diesmal wollten sie mehr als nur ein paar Trümmer. Diesmal wollten sie töten!‟
16
Der schwarze Joseph holte zum zweiten Mal aus. Ricky wimmerte. Der heiße Knoten in seinem Bauch hatte sich in Nichts aufgelöst. In diesen Momenten fühlte er keinen Hass und keine Wut mehr. Er spürte nur noch den brennenden Wunsch, dass sie sich beeilten, dass es schnell vorbei sein würde.
Doch Joseph schlug kein zweites Mal zu. Aus zusammengekniffenen Lidern spähte er an Ricky und Lester Pirelli vorbei in Richtung 4th Avenue und ließ seine Faust sinken. „Guckt mal, wer da angeschaukelt kommt.‟
Die Köpfe flogen herum. „Der blöde Fleischkloß‟, sagte Amoz Levington.
„Leck mich.‟ Lester Pirellis Griff an Rickys Armen lockerte sich.
„Loslassen!‟, rief Jack O′Neill von Weitem. „Lasst ihn los!‟ Ricky hörte seine atemlose Stimme. Für seine Verhältnisse musste Jack einen Spurt hingelegt haben.
„Misch dich nicht ein O′Neill‟, zischte Pirelli.
„Lasst ihn in Ruh′‟, beharrte Jack.
Die vier Jungens wichen ein Stück zurück, als Jack sich neben Pirelli und Ricky aufbaute. Niemand hatte Lust auf einen Kampf mit dem Fettsack.
Sicher – zu fünft hätten sie ihn wahrscheinlich besiegt. Irgendwie besiegt. Aber der eigenartige Bursche strahlte etwas aus, dass ihnen Respekt einflößte. Nicht direkt Angst, aber Respekt. Sogar Lester Pirelli hatte noch nie gewagt, ihn wegen seiner Fettleibigkeit aufzuziehen. Man mied ihn einfach. Ja – Jack O′Neill gehörte zu den Leuten, die man mied, und fertig.
„Er schuldet uns sechsundzwanzig Dollar‟, sagte Pirelli. Er griff wieder fester zu.
„Stimmt das?‟ Ricky verheulte Augen hingen an Jacks teigigem Gesicht. Er antwortete nicht. Jack entdeckte die Tüte mit den Bagels unter Pirellis Arm. „Sind das meine Bagels?‟ Ricky nickte. „Hast du gehört, Pirelli? Die Bagels gehören mir.‟
„Er schuldet uns sechsundzwanzig Dollar.‟ Pirelli und Jack musterten sich. Pirelli feindselig, Jack gleichgültig.
Für Sekunden hörte man nur Rickys Schluchzen den Verkehr von den beiden Avenues. Die Spannung war mit Händen zu greifen. Als hätte elektrischer Strom die Luft zwischen Pirelli und Jack aufgeladen. „Sechsundzwanzig Dollar, dann kriegt er die Bagels zurück.‟
„Sie gehören mir.‟
„Sechsundzwanzig Dollar.‟
Jack schlug die Knopfleiste seines Thermohemds nach hinten und griff in die Gesäßtasche. Als hätte er alle Zeit der Welt zupfte er einen Geldschein nach dem anderen aus seiner Brieftasche. Dann steckte er die Brieftasche zurück und hielt die Dollarnoten auf Augenhöhe zwischen sich und Pirelli.
„Du willst sechsundzwanzig Dollar für meine Bagels?‟
„Klar, Mann.‟ Lester Pirelli feixte. Er fühlte sich wieder stärker plötzlich. Jetzt, wo sogar der Koloss O′Neill Anstalten machte, nach seiner Pfeife zu tanzen.
„Überleg’ es dir gut, Pirelli.‟ Jacks Stimme klang jetzt noch tiefer als sonst, und auffallend leise. Ricky wusste genau, was in ihm vorging.
„Red nicht, her mit der Kohle‟, sagte Pirelli.
„Bist du dir ganz sicher?‟
„Leck