Der letzte Überlebende. Sam Pivnik. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sam Pivnik
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783534746583
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Grollen wie Donner in den fernen Karpaten. Aber es wurde lauter. Manchmal hörte man über unsere Rufe und das Geräusch unserer Stiefel, die den Lumpenball trafen, in der Ferne ein Knallen und Krachen. So etwas hatten wir noch nie gehört, keiner von uns. Aber jetzt wussten wir, dass der Krieg nach Będzin kam. Und nichts würde jemals wieder so sein wie früher.

      Damals und noch lange danach wussten wir nicht, dass die Deutschen die polnische Grenze um fünf Uhr fünfundvierzig überschritten hatten, während das Morgengrauen wieder einen schönen Tag ankündigte. Eigentlich war der Einmarsch schon für den 25. August geplant gewesen, aber dann hatten sie ihn noch einmal aufgeschoben, um ganz sicher bereit zu sein. Außerdem mussten sie warten, bis „wir“ sie angriffen. Das war natürlich alles nur vorgeschoben. Am Vortag morgens um acht hatten polnische Truppen angeblich einen deutschen Radiosender in Gleiwitz angegriffen, gar nicht weit von Będzin entfernt. Jeder Pole wusste, dass das Unsinn war, aber die meisten Deutschen glaubten die Geschichte. Tatsächlich handelte es sich bei den angeblichen polnischen Angreifern um SS-Leute in gestohlenen Uniformen. Das ganze Fiasko war inszeniert worden, um den Polen die Schuld in die Schuhe zu schieben.

      Es gab keine Kriegserklärung. Nur zivilisierte Länder gaben Kriegserklärungen ab. Die Deutschen gaben dem Angriff den Codenamen „Fall Weiß“ und setzten dreiundfünfzig Divisionen gegen uns ein. Zu dieser Zeit hatten wir dreißig Infanteriedivisionen plus neun in Reserve, elf Kavalleriebrigaden und zwei motorisierte Brigaden, dazu ein paar kleinere Unterstützungseinheiten wie zum Beispiel die Pioniere. Die Armee von Krakau war am 23. März als Stützpfeiler der polnischen Verteidigung gegründet worden. Sie war unsere nächste übergeordnete Einheit und bestand aus fünf Divisionen, einer berittenen Brigade, einer Brigade Gebirgsjäger und einer Brigade Kavallerie. Kommandeur war Oberst Władysław Powierza, sein Vorgesetzter war General Antoni Szylling, der Divisionskommandeur.

      An diesem Freitag, als alles begann, wusste ich nichts von alledem, aber bald redeten die Erwachsenen von nichts anderem mehr, und wir schnappten vieles auf. Armeen, Divisionen, Bataillone, Regimenter, Kavallerie, Artillerie – alles nur Wörter, die mir vollkommen unverständlich waren. Als der Nachmittag kam, traten wir immer noch gegen den Ball, aber jetzt hörten wir das Dröhnen von Propellerflugzeugen, die sich von Westen her näherten. Wir wussten, dass die polnische Luftwaffe einen guten Ruf genoss, aber wir hatten sie noch nie in Formation fliegen sehen. Es dauerte eine Weile, bis man seine Augen darauf eingestellt hatte und alles wahrnahm. Dann sahen wir die Welle tarnfarbener Bomber, deren Geschütze in der Sonne blitzten. Als sie die Burg erreichten, teilte sich die Formation, und einige Flugzeuge drehten ab, um verschiedene Teile der Stadt anzugreifen. Jetzt sahen wir die schwarzen Kreuze auf den hellblauen Unterseiten der Tragflächen. Viel später erfuhren wir, dass dies ein erstes Beispiel für die tödliche neue Taktik der Deutschen gewesen war: der „Blitzkrieg“ hatte begonnen. Zuerst kam der Luftschlag, dann das Gemetzel am Boden. Während die Maschinen über uns dröhnten, ahnten wir nicht, dass die Stadt Wieluń (Welun), etwa hundert Kilometer Luftlinie von uns entfernt, bereits bombardiert worden war. Drei Viertel der Häuser waren in Schutt und Asche gelegt, zwölfhundert Menschen waren tot, die meisten von ihnen Zivilisten.

      Ich erinnere mich noch an das dumpfe Geräusch, als die ersten Bomben fielen. Sie trafen den Bahnhof mit dem Flachdach und der Jugendstilfassade, schlugen auf Zink und Kupfer und zerstörten die Kommunikationsmittel und die Lebensadern von Będzin. Es ist seltsam: Man hört nicht nur, wenn eine Bombe einschlägt, man spürt es. Die Druckwelle fühlte sich an wie ein Schlag in die Magengrube. Wir spielten weiter, aber weniger selbstsicher als zuvor. Schwarzer Rauch hing über den Türmen der Burg. Die Flugzeuge verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren. Allmählich begriffen wir alle, dass etwas Schreckliches passiert war, und dachten an unsere Familien. Wir mussten jetzt wirklich nach Hause!

      Ich rannte die Modrzejowska hinunter und durch Herrn Rojeckis Torbogen. Meine Mutter und Hendla bereiteten bereits das Sabbat-Essen für den Abend vor, aber von meinem Vater war keine Spur zu sehen. Ich wusste, er war in der Synagoge oder im stibl, gemeinsam mit den anderen Ältesten und dem Rabbi. Irgendwer musste doch wissen, was da vor sich ging, warum uns der totale Krieg überschwemmte. Ich plapperte auf die beiden Frauen ein, erzählte, was ich gesehen hatte, und übertrieb dabei vermutlich schamlos, wie es Dreizehnjährige so tun. Meine Mutter sagte nichts dazu, sie plauderte nur übers Essen und den Sabbat. Instinktiv wusste ich, dass mein Vater an diesem Freitagabend keinen Obdachlosen mitbringen würde, wie sonst so häufig. Vermutlich hatte er meiner Mutter verboten, mit uns über die Ereignisse des Tages zu sprechen. Jahre später erfuhr ich, dass Großbritannien und Frankreich bereits kurz davorstanden, Deutschland den Krieg zu erklären. Der britische Premierminister Neville Chamberlain hatte es im Radio bereits angekündigt. Die Briten evakuierten ihre Kinder vor dem „Blitzkrieg“ aus den Städten, wir erlebten ihn unmittelbar. Für uns war er nicht länger eine abstrakte Bedrohung.

      Von unseren Fenstern, die auf den Hof hinausgingen und von denen aus wir Vaters Werkstatt sehen konnten, nahmen wir die Rauchsäulen wahr, die an diesem Abend den Sonnenuntergang verdunkelten. Wir rochen den Brandgeruch in der warmen Luft – nicht den süßen Duft von brennendem Holz, den wir aus dem Garten Eden kannten, sondern einen scharfen, stechenden Geruch, den wir nicht kannten. Wir versammelten uns wie immer um den Tisch, als meine Mutter die Kerzen anzündete, aber es lag keine Freude in unseren Augen. Die Gespräche wirkten gestelzt und angespannt. Nach dem Essen saßen wir da und hörten Vater zu, der aus der Bibel vorlas, diese vertrauten Worte, die ich mein ganzes Leben lang kannte. Aber an diesem Abend war es anders. Es gab keine Verheißung eines neuen Morgens, das weiß ich heute.

      Samstag, der 2. September, war Sabbat. Ein warmer, sonniger Tag. Normalerweise hätten wir uns auf den Weg zur Synagoge gemacht, gemeinsam mit Freunden und Nachbarn, um Gott zu danken. Aber an diesem Tag gingen wir nicht. Und es würde noch zwölf Jahre dauern, bis ich wieder einen Fuß in eine Synagoge setzen sollte. Es gab auch keine Feste mehr. Alle Rituale des jüdischen Jahreskreises wurden abgeschafft oder unmöglich gemacht. Nathans Bar-Mizwa zwei Jahre zuvor war eine große Zeremonie gewesen. Meine wurde ein paar Wochen nach dem Einmarsch der Deutschen bei uns in der Küche begangen, ohne die Thora aus der Synagoge, ohne Rabbi oder Kaffee und Kuchen. An diesem Tag im September wurde ich sozusagen zum Mann. Am Tag zuvor hatte ich noch Fußball gespielt und Soldaten zugewinkt. Jetzt sah ich die Flüchtlinge, die vorbeizogen, traurige, obdachlose, gesichtslose Menschen, wie sie die nächsten sechs Jahre die Straßen Europas verstopfen würden. Es war wie der Exodus, von dem der Rabbi und mein Vater erzählt hatten, aber unter den Flüchtlingen waren auch Nicht-Juden, die gemeinsam mit den Juden ostwärts hasteten und versuchten, dem Vormarsch der Wehrmacht zu entkommen. Jede nur vorstellbare Art von Transportmitteln wurde benutzt. Die Wohlhabenden hatten Autos, die Geschäftsleute ihre Lastwagen. Andere schlugen auf ihre Pferde vor den Karren ein, Karren, auf denen sich ein ganzes Leben befand. Koffer, Taschen, Bettzeug und Matratzen, hier und da ein Vogelkäfig, ein Waschzuber. Noch herrschte keine Panik. Die Menschheit neigt ja zum Optimismus. Irgendetwas würde geschehen. Gott würde Hilfe senden. Aber sie blieben nicht lange in Będzin, die Stadt befand sich zu nahe an der Front, und es konnte gut sein, dass sie morgen schon mitten im Kampfgebiet lag.

      Und dann die Gerüchte. Die nächsten sechs Jahre drehte sich mein Leben nur um Gerüchte. Die Deutschen bombardierten jede Stadt auf ihrem Weg und mähten die noch lebenden Zivilisten mit Maschinengewehren nieder. Ihre Stukas bombardierten die Flüchtlingsströme, die sich nach Osten bewegten. Aber keine Sorge, die polnische Armee drängte sie über die Grenze zurück. Alles würde gut.

      Die Wahrheit, die an jenem 2. September niemand in Będzin kannte, sah so aus: General Reichenaus 10. Armee und General Lists 14. Armee bewegten sich auf Krakau zu und schlugen jeden Widerstand nieder. General von Rundstedts Truppen hatten bereits die Warthe überquert. Mit erheblichen Verlusten – vielleicht kam deshalb das Gerücht auf, die polnische Armee würde die Deutschen zurückdrängen –, aber unaufhörlich. Immer weiter Richtung Osten. Der Angriff vollzog sich so schnell, dass unsere Armee sich gar nicht versammeln konnte, und die Reservisten um Tarnów (Tarnow) konnten nicht schnell genug zum Einsatz gebracht werden.

      Ich erinnere mich nicht, was ich an jenem Samstag oder am darauffolgenden Sonntag tat. Vermutlich spielte ich mit meinen Freunden und wir tauschten die Gerüchte aus, die wir an den Straßenecken und zu Hause gehört hatten. Nur bei uns zu Hause wurde