Der letzte Überlebende. Sam Pivnik. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sam Pivnik
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783534746583
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(Auschwitz), das gerade vierzig Kilometer von uns entfernt lag. Ich war nie dort gewesen, aber im Grunde genommen war es eine kleine Ausgabe von Będzin mit einer zur Hälfte jüdischen Bevölkerung. Das Foto, das damals jemand von den Neuankömmlingen aufnahm, bestätigt meine Erinnerung: Damals trugen wir bereits alle gelbe Armbinden mit einem schwarzen Davidstern. Die Leute waren aus ihren Häusern vertrieben worden, weil die Deutschen in der Artilleriekaserne nahe der Stadt ein neues Lager bauten und es keinen Platz mehr für sie gab. Wir wussten damals nicht, wie viele von ihnen bald wieder dorthin zurückgehen würden.

      Es muss etwa um diese Zeit gewesen sein und hatte vielleicht mit dem Zustrom von Menschen zu tun, dass auf der Anschlagtafel vor dem Büro des Judenrats zu lesen war, alle Juden müssten sich fotografieren lassen. Zu allen Zeiten haben die Menschen Angst vor dieser Art der Registrierung und Klassifizierung gehabt. Die Menschen in den Kolonien des 19. Jahrhunderts fürchteten sich vor der Kamera, weil sie glaubten, sie würde ihnen die Seele rauben. Auch ausführliche Listen, oft ein Vorläufer steigender Steuern und Abgaben, wurden mit Schrecken betrachtet. Als Wilhelm der Eroberer im Jahr 1086 abfragte, wie viele Pflüge und wie viele Stück Vieh die Menschen besaßen, hielten sie das für einen Vorläufer des Jüngsten Gerichts – daher der Name „Domesday Book“. Die Optimisten unter uns dachten, wir würden vielleicht nach Palästina deportiert und Hendla würde doch noch ihren Willen bekommen. Die Pessimisten sagten jedes denkbare Höllenloch voraus, vielleicht irgendwo in Fernost. Heute weiß ich, dass es einen Plan gab, alle Juden nach Madagaskar zu deportieren – das war eine der „Endlösungen“, die die Nazis für uns erdacht hatten.

      Der Plan war im Jahr zuvor entwickelt worden, und tatsächlich hatte das Oberkommando der Nazis auch über Palästina nachgedacht, die Idee dann aber wieder verworfen. Madagaskar gehörte zu Frankreich, aber Frankreich war ja inzwischen ebenfalls von der Wehrmacht überrannt worden, mit Ausnahme des südfranzösischen Vichy-Gebiets, dessen Verwaltung mit den Deutschen kollaborierte. Das Geld dafür, uns alle auf diese Insel vor der Küste Afrikas zu schicken, sollte aus konfisziertem jüdischem Besitz kommen. Aber selbst die 587.000 Quadratkilometer große Insel, weltweit die viertgrößte Insel überhaupt, war nicht groß genug für alle europäischen Juden, so wenig die Nazis auch an unser Wohlbefinden dachten. Außerdem spielten die Briten nicht mit, und Großbritannien herrschte nun einmal – das mussten selbst die Nazis zugeben – über die Weltmeere. Trotzdem stellten wir uns brav alle an und ließen uns fotografieren. Das Foto meiner Großmutter existiert noch, es ist eins von zwei Bildern, die ich von ihr besitze. Sie wurde zu dieser Zeit allmählich blind.

      Wir machten irgendwie weiter, so gut wir konnten, aber die Ankunft der Juden aus Oświęcim ließ die Vorräte noch knapper werden und der Schwarzmarkt blühte wie wild. Mein Vater, eigentlich ein gebrochener Mann, besaß immerhin die Energie, ab und zu Stoffreste aus Rossners Uniformfabrik zu schmuggeln. Wenn ihm das gelang, saß er zu Hause im Schneidersitz auf dem Boden, Nadel und Faden in der Hand, und nähte Kleider für Nicht-Juden, die ihn mit Mehl oder Wurst bezahlten.

      Gefährlich war unser Leben allemal. Männer und Frauen in der Fabrik verloren bei der ungeschützten Arbeit ihre Finger; für jüdische Arbeiter gab es keine Sicherheitsvorkehrungen. Aber eines Tages wurde es richtig schlimm. Zu unseren nächsten Nachbarn gehörten die Schwartzbergs, die drei Türen weiter wohnten. Im Frühjahr 1941 wurden Herr Schwartzberg und sein Sohn von der Nazi-Polizei verhaftet. Ich habe es nicht selbst gesehen, aber in unserer Straße wurde tagelang darüber geredet. Ihr Verbrechen? Herr Schwartzberg hatte eine Kuh von einem nicht jüdischen Bauern gekauft, schwarzgeschlachtet und das Fleisch verkauft. Eine Riesendummheit, dachten wohl auch die Nazis. Offenbar hatte Schwartzberg genug Geld, um das Tier erst einmal zu kaufen. Und das, obwohl er doch seine gesamten Ersparnisse dem Judenrat hätte geben sollen. Außerdem unterlief er mit dieser Aktion die Lebensmittelrationierung, die für uns gerade das Lebensnotwendige vorsah. Und dann trotzte er auch noch der Autorität der SS. Nach ein paar Tagen hörten wir, dass beide Schwartzbergs erschossen worden waren.

      Dann kamen die Wechselmanns dran, eine andere Familie, die wir gut kannten. Einer aus der Familie hatte einen Sack Mehl von einem Nicht-Juden gekauft, und sie hatten alle von dem Brot gegessen, das daraus gebacken worden war. Die Wechselmanns wurden erhängt; ich sah ihre Leichen von den Bäumen am Hauptfriedhof baumeln. Wie seinerzeit beim Einmarsch ging es um Abschreckung. Hört auf mit dem Schwarzmarkt, sonst seid ihr als Nächste dran! Die gefrorenen grauen Leichen mit den verrenkten Hälsen waren eine deutliche Warnung.

      In den ersten achtzehn Monaten der Nazibesatzung sah ich, wie meine Eltern von der ständigen Anstrengung zermürbt wurden. Sie versuchten ja, irgendwie die Familie am Leben zu erhalten. In den Straßen und in Killovs Fabrik war es dasselbe: Junge Männer wurden alt und grau vor Angst, Mangelernährung und Erschöpfung. Ich arbeitete mit meinen vierzehn Jahren Zwölf-Stunden-Schichten und hatte Mühe, irgendwo einen Kanten Brot zu finden. Dass wir als Familie immer noch zusammen waren, reichte mir nicht. Wie konnten wir hoffen, dass sich die offizielle Politik irgendwann änderte, dass irgendwann alle Deutschen so sein würden wie Rossner und Killov? Und überhaupt, was hatten wir ihnen eigentlich getan? Die Schwartzbergs und Wechselmanns hatten gegen Gesetze verstoßen, aber eben gegen unvernünftige, ungerechte Gesetze. Und wir anderen? Wir waren Juden, das genügte ihnen.

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