Hitlers Liebe zur Musik konzentrierte sich in erster Linie auf Wagner, dessen Opern er während seiner Jugend in Linz und Wien erstmals gehört hatte. Seine Kenntnisse sollte er später in München und anderswo noch vertiefen. Schon 1919/20 hatte er Ernst Hanfstaengl vorgeführt, dass er Arien summen oder pfeifen konnte: aus den Meistersingern, Lohengrin und (wie Thomas Mann, der aber das Klavierspiel bevorzugte) Tristan und Isolde. Gleichzeitig mochte er, der aus bescheidenen Verhältnissen kam, die leichte Muse wie den Badenweiler Marsch, zudem Operetten, besonders Franz Lehárs Die lustige Witwe und Johann Strauss’ Die Fledermaus. (Er nahm Lehár, trotz dessen jüdischer Frau, bis zum Ende des Regimes in Schutz.)20 In der Titelrolle des Danilo (Tenor) aus der Lustigen Witwe gefiel ihm der beliebte und umschwärmte holländische Sänger Johannes Heesters am besten.
Später scheint Hitler auch die Musik Anton Bruckners geschätzt zu haben (eine Neigung, die er höchstwahrscheinlich überbetonte, weil der Komponist ebenfalls aus Linz stammte), doch nie all jene Komponisten, die ihm Goebbels ans Herz legen wollte: Schubert, Brahms, Mozart, nicht einmal den Heros Beethoven.21 Alles in allem hatte Hitler »kaum wirkliches Interesse an oder Verständnis für Musik«.22
Hitler liebte Wagner nicht zuletzt deshalb, weil dessen Opernkompositionen als »Gesamtkunstwerk« dem Diktator Anknüpfungspunkte für seine Karriere als Demagoge boten: ein handlungsstarkes Drama, das seinem Faible für Pathos und Ideologie entgegenkam, eine Bühne für Gesang und Schauspiel oder Reden an das Volk, und eine Szenerie, die durch Farbigkeit und Form Eindruck schinden konnte. Solche visuellen Effekte passten zu Hitlers eigenen Vorlieben: Malerei und Architektur. Seine oft bekundete Selbsteinschätzung als Künstler leitete sich von den eher anspruchslosen Versuchen als Maler im Wien seiner Jugendjahre und dann in München her, bis er sich mit Beginn des Ersten Weltkriegs der bayerischen Armee anschloss. Seine malerischen Fähigkeiten gingen über Dilettantismus nicht hinaus; zwei Mal wurde seine Bewerbung von der Wiener Kunstakademie abgelehnt. Aus solchen Unterfangen einen Geniekult abzuleiten – wie Hitler es tat –, hieße, die Tatsachen außer Acht zu lassen.23 Das gilt gleichermaßen für die Architektur: Hitlers Interesse daran hing mit Gebäudeskizzen zusammen, die er in Wien und als Soldat an der Westfront in Belgien und Frankreich angefertigt hatte; später kam noch die Beschäftigung mit Innenarchitektur hinzu. Hitlers gelegentlich, vor allem während des Zweiten Weltkriegs geäußerte Bemerkungen, er wünsche sich nichts sehnlicher, als zum Künstlerleben zurückzukehren, waren Selbsttäuschung und zielten darauf, Geniekult-Gläubige zu beeindrucken.24
Auf jeden Fall steht Hitlers künstlerisches Schaffen in keinem Zusammenhang mit den neuen Bewegungen der Moderne, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland und Österreich entwickelten. Die Wiener und die Berliner Secession ließen ihn kalt; er blieb dem Geschmack der Spätromantik verhaftet, wie er von deutschen und österreichischen Künstlern – Adolph von Menzel, Hans Makart, Anselm Feuerbach, Carl Spitzweg, Arnold Böcklin, Eberhard von Grützner und anderen – praktiziert wurde. In der Architektur bewunderte er den Neoklassizismus eines Karl Friedrich Schinkel und Gottfried Semper, dem er mit immer neuen Skizzen nachzueifern trachtete. Während seiner Herrschaft bevorzugte und unterstützte Hitler Künstler, die im Sinne dieser Meister malten.25 Doch welche Bedeutung hatte Hitlers von kleinbürgerlichem Geschmack geprägte Interesse an bildender Kunst, Musik, Theater und Film für die Kultur als Ganzes im sogenannten Dritten Reich?
Das Propagandaministerium und die Kultur
Es war an einem Morgen Ende Oktober 1938 im Weimarer Hotel Elephant, als sich der Wiener Dichter Josef Weinheber aus den Reihen seiner 250 Landsleute erhob und, beflügelt vom Inhalt zweier Flaschen Wein, zum Lesepult an der Stirnseite des Saals schritt, um zu Ehren des großen – und von den Nationalsozialisten hochgeschätzten – Dichters Friedrich Hölderlin eine schwungvolle Rede zu halten. Kurz zuvor war Österreich ans Deutsche Reich »angeschlossen« worden, und Weinheber zog samt Freunden nach der Besichtigung von Weimars klassischen Schätzen stolzgeschwellt und dankbar am Abend zum Vortrag von Dr. Goebbels, der die Abschlussrede zum politisch arrangierten ersten Treffen deutscher Dichter hielt (weitere sollten folgen). Befeuert von weiterem Weingenuss, unterbrach Weinheber den Minister mehrfach durch »Heil Hitler«-Rufe, was den ministeriellen Redefluss ins Stocken brachte. Da man wusste, wie sehr Hitler und Weinheber einander zugetan waren, näherten sich schließlich zwei baumlange SS-Männer und überredeten den Dichter sanft, sich in sein treppaufwärts gelegenes Gästezimmer zurückzuziehen, sodass Goebbels seine Rede nunmehr ungestört fortsetzen konnte. Weinheber, ein schwerer Alkoholiker, schied 1945, als die Rote Armee auf Wien zumarschierte, freiwillig aus dem Leben.26
Die Anwesenheit prominenter Autoren aus der neuen »Ostmark« und dem frisch besetzten Sudetenland war für Goebbels wichtig, um die Bedeutung der NS-Politik im Allgemeinen und die Prärogative dieser Politik über die Dichtung im Besonderen zu erläutern. Jegliche Kultur, gab Goebbels zu verstehen, müsse in Zeiten nationaler Alarmbereitschaft dem Staate dienen und in dessen totalitäre Struktur eingebunden sein. Daran wollte er die deutschen Schriftsteller, wie alle Künstler im Reich, erinnern. Solche Forderungen formulierte er nicht zum ersten Mal, da er aber wusste, dass sich das Reich auf Expansionskurs befand und er sich einem ungewöhnlich aufmerksamen Publikum gegenübersah, ergriff er die Gelegenheit, die Intellektuellen und Künstler aufs Neue zu mobilisieren.27
Goebbels sprach hier in seiner Eigenschaft als Minister für Volksaufklärung und Propaganda. Diese Doppelbenennung des Ministeriums war nicht das Resultat einer zufälligen Laune, sondern ein sorgsam überlegter Schachzug: Es ging um die Lenkung der Bevölkerung durch Verabreichung von Botschaften, die je nach den Erfordernissen des Tages und ausschließlich im Interesse des politischen Führungspersonals lanciert und manipuliert wurden. Das Konzept lässt sich schon in Hitlers Mein Kampf finden, und er selbst ernannte Goebbels im März 1933 zum Minister. Ende Juni führte Hitler aus, dass Goebbels für »alle Aufgaben der geistigen Einwirkung auf die Nation, der Werbung für Staat, Kultur und Wirtschaft« verantwortlich sei.28 Daraus leitete Goebbels den Auftrag ab, Kultur als Propagandainstrument zu definieren, betrachtet als eine Art Lebenselixier für die rassisch verfasste »Volksgemeinschaft« und schließlich als deren Ausdruck. »Das Wesen der Propaganda«, betonte Goebbels, »ist deshalb unentwegt die Einfachheit und die Wiederholung.« In diesem Rahmen bewegte sich der Propagandagehalt je nach politischem Bedarf zwischen Wahrheiten, Halbwahrheiten und direkten Lügen. Als Minister hob Goebbels immer wieder den inneren Zusammenhang zwischen Kultur, Propaganda und Politik hervor. Seine Mitarbeiter im Ministerium ergingen sich fortwährend in diesbezüglichen Lippenbekenntnissen, und Beamte in jedem Winkel des Reichs beteten sie nach.29 Ein wichtiger Aspekt dieser Bemühungen war des Ausbau des bereits existierenden »Führermythos«; das begann mit volkstümlichen, auch filmischen Kulturveranstaltungen und gipfelte in staatlich geförderten, absurden hagiographischen Hymnen.30
In diesem Kosmos konnte es kein L’art pour l’art geben: Kunst war nicht um ihrer selbst willen da. Als »Vorkämpfer nationaler Kultur«, so Goebbels, konnte der künstlerische Ausdruck viele Formen annehmen, und den Kunstschaffenden kamen viele Rollen zu, solange sie dem Staat dienten.31 Erstens sollte die Kunst, was nicht verwundert, die Haltung der Bevölkerung zum Regime so beeinflussen, dass diese der vorherrschenden Politik bereitwillig zustimmte. Laut George L. Mosse bestand »die zentrale Aufgabe der Kultur im Dritten Reich [darin], die Weltanschauung der Nationalsozialisten zu verbreiten«.32 Dazu war es zum Beispiel erforderlich, für die Akzeptanz rassischer Normierungen zu sorgen, etwa durch