Irritation ist nötig, aber ob sie geschieht und ob sie positiv greift ist weniger eine Frage der Technik als eine Frage der Beziehung der beiden Menschen, die sich zur Psychotherapie verabredet haben. Der Beziehung zwischen dem Therapeuten auf der einen Seite, von dem Offenheit und Kreativität verlangt wird und dem Klienten auf der anderen Seite, der letztlich entscheidet, ob er die kommunikative Angebote seines Begleiters annimmt oder ablehnt und welchen Sinn er daraus gewinnt. In der gegenwärtigen Entwicklung gerät die Beziehung allerdings gegenüber der Technik in den Hintergrund, worauf ich später unter dem Stichwort ‘Leitlinienbehandlung’ noch eingehen werde.
Flexibilität
Dass die menschliche Beziehung in der Psychotherapie eine wichtige Rolle spielt bedeutet nicht, Methoden und Techniken wären nebensächlich. Eine Methode kann, unabhängig von ihrer Qualität, jedoch nur durch diejenigen Türen gelangen, die der Klient öffnet. Ist er emotional erreichbar, wirken emotional fokussierende Methoden vielleicht am ehesten. Ist der Klient rational erreichbar, hilft eventuell analytisches Vorgehen dabei, einen Überblick über die Lage zu erhalten. Ist der Klient auf der Verhaltensebene erreichbar hilft unter Umständen ein Verhaltenstraining. Vielleicht ist er auch auf anderen Wegen, beispielsweise über die Vorstellung oder den Körper besser zu erreichen. Dann können imaginative oder körperbezogene Methoden unter Umständen gute Ergebnisse bringen.
Doch selbst aus einer bewährten und hilfreichen Methode ergibt sich weder eine allgemeine Gebrauchsanweisung für anderen Betroffene noch eine spezielle Gebrauchsanweisung für den betreffenden Klienten. Jeden Augenblick kann sich eine Tür schließen, eine andere Tür öffnen und damit ein unerwarteter Zugang anbieten. Solch einen Zugang bietet der Klient natürlich nur auf der Grundlage einer guten Beziehung an, ansonsten versteckt er ihn. Wenn sich die Tür dann öffnet ist der Psychotherapeut gehalten, seine Methode an den Klienten anzupassen, anstatt vom Klienten zu erwarten, sich auf die von ihm erlernte Methode einzustellen. Begleitung funktioniert dann, wenn sie dem Betroffenen nichts unterschiebt, nichts vorgibt und nichts auferlegt.
Der Psychotherapeut muss letztlich dem Klienten folgen. Dieser gibt den Weg vor, ansonsten wäre der Psychotherapeut kein Begleiter, sondern ein Anführer.
1 Holsboer, F. (2011): "Eine potentiell tödliche Krankheit". Interview in Spiegel-Wissen 1-2011: 19-25, zitiert aus "Miese Stimmung" von Arnold Retzer, Frankfurt 2012, Seite 249
2 Fritz B. Simon in Peter Fuchs, Die Verwaltung der vagen Dinge, 2011 Carl-Auer-Systeme Verlag Heidelberg, Seite 10
Vom Sinn psychischer Störungen
- und dem sozialen Bedarf an psychischen Auffälligkeiten
Eine gute Psychotherapie hat zwar den Einzelnen im Blick, aber sie sieht ihn eingebettet in soziale Umstände und weiß, dass psychische Probleme eine Aufforderung zum Identitätswechsel darstellen.
Aus dem geschilderten Zusammenhang von Gesellschaft und Psyche und der Tatsache, dass die Psyche die gesellschaftliche Struktur in sich abbildet ergibt sich aber auch eine umgekehrte Sichtweise: die Psyche kann auch auf die Gesellschaft einwirken.
Individuelle psychische Zustände können Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklung nehmen, wenn sie geballt auftreten.
Die Gesellschaft nimmt vielfältigen Einfluss auf die psychischen Zustände der Individuen, indem sie den Einzelnen beispielsweise mit Vorstellungen versorgt, worum es im Leben geht und wie man sich verhalten soll, um allgemein anerkannte Ziele zu erreichen. In den westlichen Gesellschaften handelt es sich dabei vorwiegend um Erfolgsziele monetärer oder beruflicher Art. Beim Erreichen dieser Ziele ist der Einzelne einem starken Wettbewerb ausgesetzt und steht unter entsprechendem Druck. Dieser Druck beinhaltet sowohl die Erwartungen anderer Menschen als auch an sich selbst gerichtete Erwartungen. Man steht sozusagen von innen und von außen unter dauerndem Stress. Es verwundert nicht, dass im Rahmen solch starker, sozial forcierter Leistungsorientierung irgendwann gehäuft psychische Auffälligkeiten auftreten.
Wer die sozialen Zusammenhänge ignoriert gewinnt den Eindruck, der Einzelne reagiere aufgrund mangelnder psychischer Fähigkeiten falsch. Doch es steckt mehr hinter solchen psychischen Phänomenen, als Individualdiagnosen erfassen können. Psychische Zustände drücken mehr aus als bloß individuelle Befindlichkeiten; und zwar dann, wenn sie als Massenphänomene auftreten. Dann bekommen sie eine soziale Dimension und Bedeutung.
Greifen wir einige der weit gestreuten psychischen Erscheinungen auf, um nach deren möglicher gesellschaftlicher Bedeutung zu fragen. Dabei wenden wir die aufschlussreiche Frage an, die bereits vorne eine gute Erklärung für das Phänomen der Psychotherapie bot. Diese Frage lautet: „Für welches soziale Problem stellt die Entwicklung, die wir beobachten können, eine Lösung dar?“
Vom sozialen Sinn des Burn-out
Da ist beispielsweise das so genannte Burn-out, ein zunehmend massenhaft auftretendes Symptom, das Betroffene daran hindert, bezüglich ihres ‘Work- and Lifemanagement’ erwartungsgerecht zu funktionieren. Die Medien berichten ausführlich über diese zunehmende psychische Erschöpfungsform, und die staatlich regulierte Psychotherapie beeilt sich, die Betroffenen als ‘depressiv’ zu markieren. Am Symptom und seiner Verbreitung ändert das Etikett aber nichts. Schauen wir uns dieses Phänomen etwas genauer an, einschließlich seiner körperlichen Komponenten.
Vom Burn-out-Syndrom Betroffene stehen ausnahmslos unter starkem innerem und äußerem Druck. Innerer Stress bedeutet, dass der Betreffende sich selbst unter hohe Leistungsanforderungen stellt. Er will unbedingt alles gut machen, er arbeitet viel zu viele Stunden, er will beruflich aufsteigen und viel Geld verdienen oder bekannt werden. Er will sich und anderen beweisen, dass er es unter allen Umständen schaffen kann. Daher sind es oft nicht, wie man glauben sollte, die so genannt psychisch Schwachen, die eines Tages unter Burn-out leiden. Diese scheiden rechtzeitiger aus dem Rennen aus. Es sind die so genannt Starken, die eines Tages zusammen brechen, weil sie alles geben und es doch nie genug ist. Zum inneren kommt äußerer Stress hinzu. Betroffene werden vom Arbeitgeber, den Kollegen, der Arbeitsstruktur, dem Bonussystem etc. unter nicht endende Leistungsanforderungen gesetzt. Es lässt sich noch ein Arbeitsplatz mehr einsparen, ein noch höherer Gewinn anpeilen, es werden ständig mehr Aufgaben zugeteilt und mehr Überstunden verlangt.
Der menschliche Organismus reagiert auf Stresssituationen normalerweise sehr sinnvoll. Er beschleunigt den Herzschlag, die Blutgefäße ziehen sich zusammen, das vegetative Nervensystem spannt sich an, das Stresshormon Cortisol wird ausgeschüttet und das Immunsystem wird in seiner Leistung heruntergefahren. Der Organismus bereitet sich optimal auf einen Notfall vor. Leider gibt es beim Burn-out keinen echten, kurfristigen Notfall, sondern eine permanente Ausnahmesituation. Der Organismus steht unter Dauerstress. Dieser Dauerstress führt nach einigen Jahren sogar zu neuroplastischen Veränderungen im Gehirn. Dort nimmt die Leitfähigkeit neuronaler Netzwerke ab, Synapsen bilden sich zurück, das Gehirn arbeitet schlechter. Ab da fällt es schwer, sich zu entspannen und Erholung im Schlaf zu finden, weil der Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung immer schlechter