Arzt und Psychiater gehen schematisch vor. Das macht für den Psychotherapeuten keinen Sinn. Er kann seinem Klienten kein Rezept verschreiben, ja nicht einmal Ratschläge aussprechen, weil damit die Besonderheiten des Falls und der Person, also die Beziehungsgeschichte, der persönliche (emotionale, körperliche) Zustand, die Arbeitssituation, die Lebensvorstellungen, die individuellen Fähigkeiten und anderes Wichtige unberücksichtigt blieben.
Fragt man einen Psychotherapeuten nun nach dem richtigen Umgang mit Eifersucht und Angst oder anderen Problemzuständen, kann dieser lediglich sagen: „Es kommt darauf an“. Worauf? Auf den Fall, auf die Umstände, auf die persönliche Verfassung, auf die jeweiligen Erwartungen, auf die momentane psychische Stabilität, auf die individuellen Ressourcen, auf die Reaktion der Umgebung und auf anderes mehr.
Der Unterschied zwischen Festlegung und Offenheit könnte größer kaum sein. Durch die Augen des Arztes oder Psychiaters erscheint eine Depression als ‚Stoffwechselstörung des Gehirns’, die medikamentös zu behandeln ist. So sah sie zumindest der Psychiater und Direktor des Max-Plank-Instituts für Psychiatrie in Müchen, Florian Holsboer:
“Ein Depression ist eine Stoffwechselstörung im Gehirn, die sich auf unser Befinden und Verhalten auswirkt. Damit ist sie für mich eine organische Krankheit wie Rheuma oder Diabetes oder Parkinson.”1
Durch die Augen des Psychotherapeuten erscheint die Depression als Erleben eines Menschen, der seine Lage als aussichtslos einschätzt und (konsequenter Weise) seine bisherige Lebenslust verliert. Der Arzt ist auf eine Vorgehensweise festgelegt. Der Psychotherapeut kann aus seiner offenen Perspektive heraus Zusammenhänge entdecken und den Kurs nach Belieben verändern. Für den Arzt gibt es Ursachen, für den Psychotherapeuten gibt es nur vage Zusammenhänge.
“In diesem Kontext der Unbestimmtheit, ja, wahrscheinlich sogar der prinzipiellen Unentscheidbarkeit ‚wahrer’ Ursachen, ist die Psychotherapie zu verorten.”2
Psychotherapie ist auf Offenheit angewiesen, weil sie nicht nach Ursachen, sondern nach Deutungen sucht. Alles psychisches Erleben – auch ein psychisches Problem – beruht ausschließlich auf Deutungen. Daher kommt es darauf an, welche Deutung jemand auf dem Hintergrund seiner persönlichen Geschichte und unter konkreten Umständen entwickelt. Diese Deutungen fallen je nach Individuum und Lage der Dinge sehr unterschiedlich aus. Was dem einen Angst macht, lässt einen anderen kalt. Was der eine verarbeiten kann, wirft einen anderen aus der Bahn. Wobei der eine emotionale oder gar körperliche Symptome entwickelt, zuckt ein anderer bloß mit der Achsel. Warum? Weil er die Lage anders deutet. Der Betroffene auf dem obigen Beispiel deutet das Fremdgehen seiner Partnerin als existentiell bedrohlich und reagiert entsprechend panisch. Natürlich ist sein Überleben nicht objektiv bedroht, sondern er fühlt sich bedroht und könnte sich oder anderen im Versuch, emotionale Sicherheit zu finden schaden, beispielsweise durch eine Eifersuchtshandlung.
Die Psyche ist ein weites und unüberschaubares Feld. Es gibt in ihr keinen Ort, von dem Störungen ausgehen, es gibt keinen Infektionsherd, keine gebrochenen Knochen. Ursachen sind in der Psyche nicht zu finden, man trifft lediglich unterschiedlichste Deutungen, auf einen individuell generierten Sinn. Die Kunst der Psychotherapie liegt nun darin, zu anderen Deutungen zu gelangen. Andere Deutungen erzeugen einen anderen Sinn und ermöglichen andere Gefühle, ein anderes Erleben und ein anderes Verhalten. Neue Deutungen aber schüttelt niemand aus dem Ärmel, sie entstehen auch nicht durch Einsicht oder Verständnis. Sie wollen im Kontakt mit Menschen entwickelt werden und müssen zahllose Umstände mit einbeziehen, etwa emotionale, rationale, körperliche, beziehungsmäßige und soziale Umstände.
Neu- oder Umdeutungen geschehen, indem man die psychischen Zusammenhänge erkundet und Deutungen erkennt und prüft. Oder indem man einen Sinn hinter einem problematischen Erleben vermutet. Der Sinn einer Eifersucht könnte beispielsweise darin liegen, sich zu behaupten, die Wut des Eifersüchtigen könnte genutzt werden, um eine größere Unabhängigkeit zu erlangen. Mit dieser Deutung (oder einer anderen) ginge es für den Betroffenen dann weiter. Der Sinn einer Depression könnte darin liegen, sich zu verweigern. Er würde sich offenbaren indem man beispielsweise herausfindet, was verweigert wird und wogegen sich die Verweigerung richtet. So gesehen würde aus der Verweigerung eine Auflehnung gegen die Ansprüche anderer oder gegen verinnerlichte Zwänge, die einem das Leben schwermachen.
Das Gesagte legt nahe, Psychotherapie weniger als Wissenschaft, sondern vielmehr als eine Kunst zu verstehen. Als die Kunst, zu anderen Deutungen zu gelangen, zu Deutungen, mit denen man weiterkommt.
Diese Aussage sollte man allerdings richtig verstehen. Deutungen und die damit verbundenen Identitäten (Wer deutet auf diese Weise?) sind robuste Strukturen, die sich nicht willkürlich und nach Lust und Laune, sondern nur mit einigem Aufwand verändern lassen. Mit einem Aufwand, zu dem die Psychotherapie beitragen kann, wenn sie genügend Offenheit aufbringt, um die Dinge lange genug vage sein zu lassen. Psychische Zusammenhänge können sich nämlich jeden Augenblick als etwas anderes herausstellen, als sie bisher erschienen. Eine Erinnerung, ein Gefühl, ein Zustand, ein Ziel kann sich im Laufe einer Psychotherapie verändern, es kann sich plötzlich ein neues Bild der Lage ergeben. Daher kann jede Festlegung dem Klienten im Wege stehen statt ihn auf seinem Weg zu einer neuen Orientierung zu begleiten.
Zu erforderlichen Offenheit der Psychotherapie gehört meines Erachtens auch eine große Umsicht im Umgang mit dem Begriff der Krankheit. Die Bewertung ‚psychisch krank’ erweckt allzu leicht den Eindruck, man könne die Ursache eines psychischen Problems eindeutig benennen. Über solche Gewissheiten verfügt die Psychotherapie jedoch nicht. Daher ist die harte Diagnose ‚psychisch krank’ oder die verschleiernde Diagnose ‚psychisch gestört’ meist unangemessen. Auch der Umstand, dass jemand leidet kann nicht als Rechtfertigung für eine Pathologisierung dienen. Sonst wäre jeder, der an einem Verlust, einer Enttäuschung, einem Schicksalsschlag leidet, zugleich psychisch krank. Natürlich kann es Klienten entlasten, wenn bei ihnen eine psychische Erkrankung diagnostiziert wird und sie endlich ‘wissen’ was sie ‘haben’. Aber es kann Betroffene auch belasten, wenn ihre Krise oder Desorientierung zur behandlungsbedürftigen Krankheit erklärt wird. Der für eine Psychotherapie nötigen Offenheit entsprechen die Begriffe ‘Krise’ und ‘Begleitung’ weitaus mehr als die Begriffe ‘Krankheit’ und ‘Behandlung’. Psychotherapeuten benutzen allerdings fast ausschließlich das zweite Begriffspaar.
Bezogenheit
Der Begriff der Begleitung weist auf ein anderes zentrales wichtiges Merkmal einer sinnvollen Psychotherapie hin: auf die Bedeutung, die sie dem menschlichen Kontakt und der Kommunikation zwischen Therapeuten und Klienten zuweist.
Wer bei psychischen Problemen Hilfe sucht, der kommt an einem bestimmten Punkt in einem bestimmten Lebensbereich alleine nicht weiter. Er braucht einen Spezialisten im Erkennen vorhandener und finden neuer Deutungen und im Erkunden von Verhaltensalternativen. Allerdings gilt: Neu- oder Umdeutungen sind nicht Ergebnis einer Behandlung, sondern das Ergebnis einer Beziehung. Einer Beziehung, die dann Früchte trägt, wenn der Klient vom Begleiter einerseits akzeptiert und respektiert, andererseits auf eine Weise irritiert wird, die sich positiv auswirkt. Psychotherapie muss den Klienten gewissermaßen aus dem Konzept bringen. Sie muss das Verhalten, die Überzeugungen, die Gefühle, die Deutungen der Betroffenen irritieren; und so etwas Verwirrendes kann mit guten Ergebnissen nur in einer tragfähigen zwischenmenschlichen Beziehung geschehen.
Solche Irritation kann auf verschiedene Weise wirken. Schon die Zeit und die Aufmerksamkeit, also die reine menschliche Zuwendung, die ein Psychotherapeut für seinen Klienten aufbringt, kann eine Irritationen darstellen. Etwa bei Menschen, die sich als wertlos und minderwertig empfinden. Dann widerspricht allein Tatsache, dass da jemand zuhört und Kontakt hält, der