Nataschas Blick weicht seinen Augen aus und bleibt an seinem Kinn haften. »Herr Mjuller?«, unterbricht sie seine Gedanken.
Endlich nickt der Geschäftsmann.
»Es freut mich, dass wir uns bekannt machen. Ich bin Natalja Fjodorowna«, sagt sie kühl. (Eine Standard-Kennenlern-Phrase heißt im Russischen: »Dawajte posnakomimsja«, wörtlich: »Lassen Sie uns kennenlernen« oder »Lassen Sie uns bekannt machen«. Nun, da hängt Nataschas Deutsch irgendwie zu sehr am Russischen fest.)
Herr Müller strahlt. »Natascha, priwjet ... das freut mich.« Kräftig streckt er ihr seine Hand entgegen – zaghaft umschließt Nataschas Hand die seine so sanft, dass es fast schon kitzelt. Das Wort Händedruck scheint vermutlich nicht in Russland erfunden worden zu sein?!
Da besinnt sich Herr Müller, dass er ja seine neue Assistentin gerade beim Vornamen genannt hat. Und überhaupt, warum nennt sie sich selbst Natalja? Ist das vielleicht ihre Vertretung?
»Frau Fjodorowna, sind Sie Natascha?«
Die junge Frau nickt ein wenig irritiert. Und fast scheint es, als würde ein kleines Lächeln über ihr Gesicht huschen. Oder hat sich Herr Müller da nur getäuscht?
Was ist diesmal schiefgelaufen?
Gleich mal vorweg und zu seiner Verteidigung: Herr Müller führt seit seiner Scheidung ungefähr ein genauso prickelndes Liebesleben wie ein Pinguin, der einsam auf einer Eisscholle im Nordpolarmeer treibt. Nehmen wir es ihm daher nicht krumm, dass er sich ein wenig umschaut. Dabei ist er weder ein »Lustmolch« oder gar sexistisch. Keine Sorge. Schließlich hat er doch so viel von den slawischen Schönheiten mit ihren hohen Wangenknochen gehört, vielleicht eines der gängigsten Klischees über Russland, und ist deshalb so aus dem Häuschen?
Nicht zu Unrecht, denn russische Frauen legen viel Wert auf ihr Aussehen und betonen ihre Weiblichkeit. Sie wollen schön und attraktiv sein, unterstreichen ihre femininen Züge und kokettieren mit ihren Reizen. Und unabhängig von ihrem Einkommen oder ihrem Familienstand sehen sie immer aus wie Frauen. Mit sorgsam aufgetragenem Make-up und femininen Röcken tauchen sie nicht nur bei der Arbeit, sondern auch im Supermarkt auf. Stets bemüht, dem weiblichen Schönheitsideal nahe zu kommen. Selbst widrige Bedingungen, die zum russischen Alltag gehören – seien es meterhohe Schneeberge, knöcheltiefe Taupfützen im Frühjahr oder kratergroße Schlaglöcher auf den Bürgersteigen – scheinen sie nicht davon abzuhalten, ihre Weiblichkeit durch abenteuerlich-hohe Absätze zu betonen. Apropos Schuhe: Was westliche Ausländer immer wieder wundert, sind die meist blitzblank geputzten Schuhe, die die meisten Russen haben, trotz Matschwetter. Darauf wird großen Wert gelegt. Und dass »eine Frau immer eine Frau bleiben muss«, besagt auch ein russisches Sprichwort: Schenschtschina dolschna ostatsja schenschtschinoj.
Selbst zu späten Sowjetzeiten, als das Wort Modeboutique noch dem kapitalistischen Ausland zugeschrieben wurde, legten die Russinnen Wert auf schöne Kleider. Und schneiderten diese nicht selten selbst – mithilfe der beliebten Burda-Schnittmuster, die ihrerzeit begehrte Tauschware auf dem Schwarzmarkt waren.
Kurze Röcke im Winter? Nichts Ungewöhnliches. Hohe Stiefel und ein Pelzmantel halten schließlich warm. Da sollte sich Herr Müller lieber Gedanken um seine eigene Kleidung machen und überlegen, ob es so geschickt war, ohne Mütze und lange Unterhosen nach Moskau zu fliegen!
Doch stopp. Damit Sie erst gar nicht auf abwegige Gedanken kommen! Natascha mag zwar eine rote Lederjacke und einen eher offenlegenden als verhüllenden Rock tragen. Aber schließen Sie anhand dieser Kleidung bitte nicht darauf, dass sie leicht zu haben sei! Der Griff zu intensiven Farben und gewagten Formen wurzelt nicht zuletzt auch in der modisch recht tristen Sowjet-Vergangenheit. Schöne und vor allem individuelle Kleidung war Mangelware, vielmehr musste auf das gerade verfügbare Angebot zurückgegriffen werden, irgendwo zwischen gähnenden Kaufhausregalen und einer Massenlieferung blauer Stoffmäntel. Gekauft wurde, was verfügbar war. Lange Jahre herrschte Nachholbedarf. Geblieben ist die Vorliebe für eher fröhliche Farben.
Zudem propagierte der Sowjetstaat, zumindest in seinen frühen Jahren, dass Frauen gute Mütter, aber auch gute Arbeiter sein müssten. Das weibliche Geschlecht wurde in einheitliche Firmenkluft gesteckt, die Individualität damit erdrückt. Schon seit den 1990er Jahren stehen die Nobelboutiquen an der Moskauer Einkaufsstraße Twerskaja internationalen und westlichen Metropolen in nichts nach. Damals eroberte der »Rote Dior«, Slava Zaitsev (geboren als Wjatscheslaw Michailowitsch Saitsew) die westlichen Laufstege und wurde sogar Ehrenbürger von Paris. Zaitsev war kein Newcomer: Er hatte schon 1980 die Uniformen der sowjetischen Olympiamannschaft entworfen. Doch nicht nur Zaitsev, auch andere Designer, wurden auch in Russland längst schon von den neuen Influencern abgelöst: Russische Modebloggerinnen und Fashionistas haben ihre treuen Follower in aller Welt und mischen ganz vorne mit in Zeiten, in denen Modeblogger ein Vollzeitjob geworden ist.
Natascha begrüßt Herrn Müller recht reserviert, sie lächelt nicht. Wundern Sie sich nicht: Das öffentliche Gesicht in Russland ist ernst, vor allem im Beruf und erst recht beim ersten Kennenlernen. Weit verbreitet ist auch der Irrglaube, dass ein Lächeln im Beruf als oberflächliche Eigenschaft interpretiert werden könnte und das Gegenüber auf eine unprofessionelle Einstellung zum Beruf schließen könnte. Doch keine Sorge, Herr Müller wird Natascha noch in vielen Episoden lachen sehen – auch wenn sich die Mimik in puncto Lächeln unterscheidet.
Händeschütteln zur Begrüßung war in Russland lange Jahre nur unter Männern üblich. In Großstädten werden Ihnen vermutlich auch Frauen die Hand reichen, allerdings vermutlich solche aus einer jüngeren, international aufgeschlossenen Generation. Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte die Initiative zum Händeschütteln entsprechend von der Frau ausgehen, warten Sie daher lieber ab. Geht das Händeschütteln mit russischen Frauen schief, können Sie die Situation jedoch immer noch galant in ein »Küss die Hand gnä’(dige) Frau« umkehren. Umgekehrt fühlen sich westliche Frauen nicht selten übergangen, wenn sie von russischen Geschäftspartnern nicht die Hand gereicht bekommen – was leider immer noch vorkommt.
Dass ihm Natascha nicht in die Augen schaut, empfindet Herr Müller als unhöflich. Doch da belehren wir ihn lieber sofort, dass es in Russland nicht üblich ist, jemanden allzu direkt anzuschauen. Das ist auch der Fall, wenn Russen die Gläser heben und ihr Blick genau in diesem Augenblick auf Ihre Schuhspitzen oder aus dem Fenster fällt. Entsprechend scheint die Trink-Weisheit, dass man sieben Jahre schlechten Sex haben werde, wenn man sich beim Zuprosten nicht in die Augen schaue, auch nicht in Russland entstanden zu sein!
Wäre Herr Müller zu Sowjetzeiten in Moskau gelandet, wäre er vermutlich mit towarisch angesprochen worden, also Genosse. Die Anrede gospodin für Herren oder gosposcha für Frauen war in der Sowjetunion hingegen verpönt. Denn schließlich gab es keine Herren mehr, sondern nur die klassenlose Gesellschaft. (Gott hat die etymologisch gleiche Wortwurzel und heißt im Russischen Gospodj.) Diese beiden Anredeformen wurden in der Regel nur für Ausländer verwendet. Der Genosse ist unterdessen im Alltag, insofern man es nicht mit hartgesottenen Sowjetnostalgikern zu tun hat, längst schon in der Mottenkiste der Vergangenheit verschwunden.
Noch etwas: Natascha ist die die Kurzform des recht verbreiteten russischen Frauennamens Natalja. Manchmal ist es für Ausländer verwirrend, dass russische Kurz- oder Kosenamen genauso lang wie der eigentliche Name sind: Aus Ana wird »Anja« und aus Olga wird »Olja«. Wladimir wird von seinen Freunden nur »Wolodja« genannt, Sergej ist »Serjoscha«, aus Konstantin wird »Kostja« und aus Natalja eben »Natascha«. Herr Müller müsste seine Assistentin streng genommen mit Vor- und Vatersnamen anreden. Nataljas Vater hieß Fjodor, daher wäre die korrekte Anrede für sie Natalja Fjodorowna, also wörtlich »Natalja, Tochter des Fjodor«. Wäre Natascha ein Mann, hätte ihr Vatersname – der übrigens zwischen Vor- und Nachnamen eingeschoben wird – die grammatische Endung -owitsch. Fjodor Fjodorowitsch wäre also »Fjodor, Sohn des Fjodor«.
Aus Natascha wird jedoch nicht Frau Fjodorowna, sondern Frau Gontscharowa, denn so lautet