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WASCHBÄREN UND DIE PEST
27. JULI, ANN ARBOR, MICHIGAN
Susanne | Unsere Gastgeber sind, und das hat mich sehr überrascht, leider nicht sehr tierlieb, von ihrem eigenen Hund einmal abgesehen. Ich hatte mich heute Morgen, Torsten schlief noch, mit einer Tasse Kaffee auf die Veranda hinterm Haus gesetzt. Als ich mir gerade eine Zigarette anstecken wollte, rannten plötzlich vier kleine Waschbären durchs Gras. Die waren bestimmt erst ein paar Wochen alt und sahen sehr putzig aus. Ich bin natürlich gleich hin zu ihnen. Das Gras war noch ganz kühl und nass unter meinen nackten Füßen. Die kleinen Waschbären waren ganz lieb und sind um meine Füße herumgetollt. Max hat wie verrückt hinter der Verandatür getobt. Wahrscheinlich wollte er mitspielen.
Plötzlich stand jedoch Sarah mit ärgerlichem Gesicht auf der Veranda und rief nach Mark. Ich sagte ihr, dass ich noch nie wilde Washbears gesehen hatte. »Washbears?«, fragte Sarah zurück und sagte dann noch etwas von der Pest. Übertragen Waschbären etwa die Pest? Das war mir neu und außerdem waren wir doch nicht mehr im Mittelalter! Mark kam mit dem Handy in der Hand nach draußen. Er bedeutete mir, auf die Veranda zu kommen. Wir gingen alle ins Haus, Sarah schloss die Tür und sprach wieder von der Pest, vor der sie anscheinend ganz schön Angst hatte, womöglich weil sie schwanger war. Eine halbe Stunde später kam dann tatsächlich ein Pick-up mit der Aufschrift Pest Control vorgefahren. Ein uniformierter Mann stieg aus und nahm Gitterkäfige von der Ladefläche, die er dann im Garten aufstellte und in die er etwas Weißes hineinlegte. Wahrscheinlich Gift!
Heute Abend, gleich nach Einbruch der Dunkelheit, werde ich mich in den Garten schleichen und die giftigen Köder aus den Käfigen nehmen. Ich habe jedenfalls keine Angst vor der Pest und die kleinen Waschbären sind viel zu niedlich, um einfach vergiftet zu werden!
Torsten | Nun ja, diese Angst vor der Pest ist wirklich etwas übertrieben, aber ich glaube, wir sollten uns da nicht einmischen. Trotzdem frage ich mich, warum wir in Deutschland noch nie etwas von der Pestgefahr in Amerika gehört haben.
Was ist diesmal schiefgelaufen?
Die Bezeichnung Waschbär kennen die Amerikaner nicht; bei ihnen heißt dieses Tier raccoon. In der Regel finden sie diese nachtaktiven Vierbeiner auch nicht besonders putzig, sondern betrachten sie eher als lästige Plagegeister. Das liegt in erster Linie daran, dass sich Waschbären im menschlichen Umfeld sehr wohl fühlen und ihre Bevölkerungsdichte in Städten bis zu 20 Mal höher als in der Natur ist. Zudem sind Mülltonnen, die sie mit ihren Pfoten geschickt öffnen können, ihre Hauptnahrungsquelle. Die meisten Leute haben leichte Plastiktonnen hinter ihrem Haus stehen, die von den Waschbären einfach umgeworfen, geöffnet und dann nach Essbarem durchsucht werden. Dabei wird der Inhalt der Mülltonnen im Umkreis verstreut und muss dann am nächsten Morgen wieder eingesammelt werden. Zusätzlich nisten sich Waschbären gerne auf Dachböden und in Zwischenwänden ein und machen dort mitunter viel Lärm, insbesondere zur Paarungszeit.
Da das englische Wort für Plage pest ist, hatte Sarah jedoch nicht Angst vor der mittelalterlichen Seuche, sondern machte nur ihrem Ärger über die nervenden Waschbären Luft. Wer Waschbären in seinem Haus oder Garten findet, kann einen Service rufen, der in der Regel pest control heißt und im Branchentelefonbuch unter diesem Stichwort zu finden ist. Die pest control stellt Fallen auf und setzt die eingefangenen Tiere dann meist im Wald aus.
Die in Deutschland lebenden Waschbären sind allesamt Nachkommen von Tieren, die Mitte des 20. Jahrhunderts hauptsächlich zur Pelzerzeugung aus Amerika eingeführt wurden. Einige wurden in den Dreißigerjahren ausgesetzt bzw. konnten durch Kriegseinwirkungen in den Vierzigerjahren aus ihren Gehegen entkommen. In Deutschland weist allerdings nur die Stadt Kassel eine Waschbärbevölkerung auf, die mit denen amerikanischer Städte zu vergleichen ist.
MARSHMALLOWS & S’MORES
Die besten Köder für Waschbären sind merkwürdigerweise marshmallows, d. h. schwammartige weiße Süßigkeiten aus Geliermittel und Zucker, die von Amerikanern gerne auf Stöcke gespießt, über dem Lagerfeuer geröstet und dann zusammen mit einem großen Stück Schokolade zwischen zwei graham crackers gepresst als sogenannte s’mores gegessen werden.
Die Bezeichnung marshmallow stammt übrigens daher, dass diese Süßigkeit ursprünglich aus den Wurzeln der Sumpfmalve (marsh = Sumpf, mallow = Malve) hergestellt wurde. Das Wort s’more ist eine Verkürzung von some more und stammt aus den Zwanzigerjahren, als die girl scouts (Pfadfindermädchen) diese anscheinend erstmalig am Lagerfeuer zubereiteten.
Vorsicht vor wilden Tieren!
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Sie wilde Tiere natürlich nicht berühren sollten, da es in den ganzen USA, ausgenommen in Hawaii, Tollwut gibt. Falls Sie von einem wilden Tier gebissen werden, ist es ratsam, schnellstmöglich einen Arzt aufzusuchen und sich gegen Tollwut impfen zu lassen. Wenn Sie nachtaktive Tiere wie Waschbären, Stinktiere (skunks), Beutelratten (opossums) und Fledermäuse (bats) während des Tages sehen, sollten Sie besonders vorsichtig sein, da es sich hier oft um kranke Tiere handelt. Wenn Sie von einem Hund gebissen werden, ist es ratsam, sich vom Besitzer den Nachweis über die gesetzlich vorgeschriebene Tollwutimpfung erbringen zu lassen.
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GESUNDHEIT!
27. JULI, ANN ARBOR, MICHIGAN
Torsten | Heute wollten wir unsere mitgebrachten Euros umtauschen gehen. Also machten wir uns auf den Weg ins Stadtzentrum. In der Main Street hatten wir gestern beim Vorbeifahren mehrere Banken entdeckt und da wollten wir zuerst einmal die Umtauschkurse vergleichen.
Als wir in die Bank of America reinmarschierten, wurden wir auch freudig begrüßt. Ich hielt nach einem Schild mit dem Umtauschkurs Ausschau, konnte aber keines entdecken. Die Frau hinter dem Schalter schüttelte den Kopf, als ich ihr unsere Euros zeigte und sie meinte, dass sie diese nicht umtauschen würden. Merkwürdig. Also gingen wir zur Chase Bank auf der anderen Straßenseite. Die wollten auch keine Euros! Der Mann hinter dem Schalter sagte uns aber, dass wir zu einem Reisebüro bei der Uni gehen sollten. Er schrieb die Adresse auf und malte sogar eine kleine Skizze. Wir machten uns also auf den Weg.
Die Fußgängerampeln sind hier in den USA übrigens etwas anders als zu Hause. Ein weißes Männchen zeigt an, dass man die Straße überqueren darf und eine orange Hand bedeutet, dass man warten muss. Bevor die Ampel auf Gehverbot umschaltet, blinkt die Hand aber erst einmal für einige Sekunden, damit man weiß, dass man sich beeilen muss. Bei einigen Ampeln laufen auch wie bei einem Countdown die Sekunden rückwärts, die man noch Zeit hat, um sicher über die Straße zu kommen. Viele Leute kümmern sich jedoch überhaupt nicht um die Ampeln und gehen einfach rüber, wenn kein Auto kommt. Susanne und ich haben uns da beinahe in aller Öffentlichkeit in die Haare gekriegt, denn sie wollte sich unbedingt an die Anordnung der Ampel-Hand halten und warten, obwohl weit und breit kein Auto zu sehen war. Susannes uneingeschränkter Respekt vor der Staatsmacht ist manchmal wirklich nicht normal und schließt auch Ampeln nicht aus.
Nachdem wir die Liberty Street hoch gelaufen waren, und dabei drei weiteren Ampeln unsere Unterwürfigkeit beweisen mussten, kamen wir an einem großen Buchladen vorbei und gingen dort rein, um nach einem Reiseführer für Chicago zu schauen. Es gab mindestens zehn verschiedene Bücher, von denen wir das billigste kauften, da