„Warst du dort?“
„Nein, San Quentin ist zu weit für mich. Jede Entfernung ist zu weit für mich. Ich sehe sein Gesicht oft genug im Traum. Das reicht.“
Der Dämon in Leon wuchs weiter und schnürte ihm von innen die Kehle zu. Er machte sich hässlich grinsend im Brustkorb breit und zerquetschte dabei fast sein Herz. Die Bilder in seinem Kopf wurden so real, dass er die Hände vors Gesicht legte, um ihnen kein Licht zu geben, doch sie ließen sich nicht vertreiben. Er spürte Jaspers fleischige Hand auf seinem Schulterblatt. Sie sollte Mut machen, ihm Trost spenden, er musste es nur zulassen. Leon riss sich zusammen, nahm die Hände von seinem Gesicht und atmete tief ein.
„Nach fünfzehn Jahren haben sie nun das Urteil vollstreckt. Ist es nicht Ironie des Schicksals? An dem Tag, an dem er damals ins Gefängnis kam, wurde gerade ein Todesurteil vollstreckt. Dann fünfzehn Jahre keins mehr und nun, auf denselben Tag genau, hat man das Schwein hingerichtet.“
Noch immer war Leon nicht in der Lage zu antworten. Jasper spürte es offenbar und sprach weiter. „Ich habe mich gefragt, was es mit mir macht, sobald ich erfahre, dass er tot ist.“ Er zuckte mit den Schultern. „Sein Anwalt und eine Menschenrechtsorganisation haben mich angeschrieben und darum gebeten, ihm zu vergeben. Das erschien ihm wohl unheimlich wichtig.“
„Und? Hast du ihm vergeben?“ Leons Frage klang schärfer als gewollt.
„Anfangs nicht. Er hat alles zerstört.“ Jasper machte eine lange Pause, die Leon nutzte, um tief durchzuatmen. „Doch irgendwann dachte ich, was soll’s? Ich habe zurückgeschrieben, dass ich ihm vergebe. So seltsam es klingt, aber es hat mir auf eine gewisse Art Erleichterung verschafft.“
Leon stieß entrüstet die Luft aus der Nase. „Ach ja? So einfach ist das?“
„Ist es nicht!“ Jasper wiegelte ab. „Bei Gott nicht. Aber nun kann ich vielleicht endlich leben. Die Trauer und die innerliche Verstörung werden wohl nie vergehen, doch nun ist wenigstens der Hass weg.“
Leon schwieg, denn was ihm auf der Zunge lag, war nicht nett und bevor er etwas Bitterböses sagte, hielt er lieber den Mund. Aber denken durfte man und er fand, dass Jaspers Einstellung genauso wabbelig und weich war wie der Rest von ihm. Er würde diesem Schwein nie vergeben und es war schade, dass sie ihn nun hingerichtet hatten, denn die jahrelange Isolation in einem Todestrakt war sicher quälender. Er hätte diesem abartigen Individuum, das ihm alles genommen hatte, ein langes, ein sehr langes Leben gewünscht.
„Es wäre doch schön, wenn wir nun von vorne anfangen könnten. Mit seinem Tod können wir mit allem abschließen und endlich anfangen zu leben, findest du nicht?“
„Wovon redest du?“ Leon klang schärfer, als er wollte, und nahm sich vor, sich zusammenzureißen. Er griff in die Tüte mit den Erdnüssen und ließ seinen Unmut an ihnen aus.
„Davon, dass du aufhörst, ständig auf der Flucht zu sein. Ein paar Wochen hier, ein paar Wochen dort. Nie hält es dich irgendwo. Du nimmst Jobs an, die unter deiner Würde sind und die du gar nicht nötig hättest. Und wenn dir wieder mal alles zu viel wird, dann verschwindest du einfach. Du denkst, du bist stärker als ich, doch das bist du nicht. Du bist nicht einmal in der Lage, dich auf einen Flirt einzulassen, blockst sofort ab, wenn es zu nah wird. Ich habe dagegen angekämpft und es wenigstens versucht, im Gegensatz zu dir.“
„Was soll das hier werden? Hast du mich herbestellt, um zu streiten?“ Leon unterdrückte den Impuls aufzustehen und Jasper einfach sitzenzulassen. Stattdessen atmete er tief durch und starrte in den stahlblauen Himmel über ihnen.
„Streiten? Nein, sicher nicht. Ich wollte dir vorschlagen, zu mir zu ziehen. Es wäre schön, wenn du bleiben könntest. Ich hätte dich gerne in meiner Nähe und Platz habe ich in dem Haus nun mehr als genug.“
„Danke, aber das geht nicht, ich habe ein neues Jobangebot.“
Jasper lachte kurz auf. „Was ist es diesmal? Trucker? Cowboy? Soldat? Ach nein, das hatten wir ja bereits alles.“
Leon mochte den Spott in Jaspers Worten gar nicht und es passte auch nicht zu seinem Bruder, der sonst so sanft und freundlich war.
„Ich fange bei einer Ölgesellschaft an. Gleich nächste Woche.“
Jasper sah ihn verständnislos an und schüttelte leicht den Kopf. „Na da lohnt sich endlich mal, dass du studiert hast. Warum nimmst du solche harten Jobs an, statt das Geld zu nehmen und …“
„Ich fasse das Geld nicht an. Es ist dreckiges Geld. Ich will es nicht“, unterbrach er ihn schneidend und Jasper verstummte. Wieder langte Leon in die Erdnusstüte, nahm eine Handvoll heraus und knackte die Schalen auf. Während dieser wortlosen Stille spulte sich vor seinem inneren Auge ein Film ab. Ein Film, den er nie mehr hatte sehen wollen und der sich doch immer wieder in seine Albträume drängte. Der ihn mehr ängstigte, als alles andere und der innerlich mit einem kurzen Peitschenhieb zerstörte, was er in vielen Jahren immer wieder aufs Neue versuchte aufzubauen.
Auf einem Ast der Kiefer begann ein Vogel lauthals in den Nachmittag zu zwitschern. Sie sahen beide kurz nach oben, dann trafen sich ihre Blicke erneut.
„Aber du wirst dich öfter melden?“
„Ja … sicher.“
„Und du wirst meine Anrufe beantworten?“
„Versprochen.“
Jasper erhob sich schwer. Erst wippte er vor und zurück, damit er genug Schwung hatte, seinen massigen Körper von der Bank zu hieven, um sich dann mit einem heftigen Schnaufen auf die Füße zu stellen. Er langte nach seinem Rollator, um sich abzustützen und Leon sprang auf, um ihm zu helfen, doch Jasper winkte ab. Stattdessen deutete er auf die Erdnusstüte, die noch auf der Bank lag, und Leon gab sie ihm. Sein Bruder verstaute das knisternde Tütchen im Korb seiner Gehhilfe und holte tief Luft.
Leon tat es in der Seele weh, ihn so zu sehen, und er hoffte inständig, dass Jasper sein Leiden in den Griff bekommen würde.
„Leon?“
„Hm?“
„Es wäre wirklich schön, wenn du das in den Griff bekommst.“
„Was meinst du?“
„Deine ständige Flucht.“
Jasper setzte sich in Bewegung und Leon sah ihm stumm hinterher, wie er davonging. Zuerst hinkte er leicht, das immense Gewicht drückte auf die Gelenke, doch dann hatte er sich offenbar eingelaufen, die Muskeln und Sehnen waren bereit, ihn zu tragen. Seine steifen Bewegungen wurden runder und bald schon war er schlurfend hinter der Krümmung des Parkwegs verschwunden.
Kapitel 1
Eywa streckte die Hand aus, bis ihre Finger den sündhaft teuren Konzertflügel erreichten. Aufregung durchflutete sie, so wie jedes Mal, wenn July sie in dem Musicstore absetzte, der neben Gitarren, Schlagzeugen und Klavieren seit Neuestem auch diesen atemberaubenden Flügel zum Verkauf stellte. Bislang hatte sie jedoch nicht gewagt, sich ihm zu nähern, zu groß war ihre Ehrfurcht. Während July die Wocheneinkäufe erledigte, machte sie es sich meist in der Lounge des Stores gemütlich, trank einen Kaffee und lauschte mit Begeisterung den Musikern, während sie die verschiedenen Instrumente ausprobierten. Es gab große Talente unter ihnen und wäre sie Musikproduzent, würde sie nach dem Star von Morgen genau in solchen Stores suchen.
Eywa ließ ihre Fingerspitzen über die lackierte Oberfläche gleiten. Kühl und glatt fühlte sie sich an. Wie das Wasser des kleinen Sees vor ihrem Zuhause, wenn er im Winter zu Eis gefror. Der Traum, einen eigenen Konzertflügel zu besitzen, würde ewig einer bleiben und das war auch der Grund, warum es für sie so faszinierend war, den Diamanten unter den Tasteninstrumenten berühren zu dürfen. In der Regel kam sie ihnen nicht besonders nah. Sie ließ die Hand sinken und fuhr mit den Fingerknöcheln den Rand des geschwungenen Resonanzkörpers entlang, bis sie ihn einmal