Vor allem im Cardio-Bereich sind Bildschirme, auf denen Sportshows, Musikvideos oder Nachrichtensendungen abgespielt werden, seit Jahrzehnten fester Bestandteil in Gyms. In neueren Trainingsgeräten, etwa Crosstrainern, sind individuelle Screens integriert. Oft handelt es sich um Touchscreens mit Audioausgang, über die auch auf das Internet zugegriffen werden kann. In luxuriösen Gyms wie dem Oxygen Gym Kuwait werden Flatscreens für besonderen Enter- und Infotainment-Komfort direkt auf die Bedienkonsolen einzelner Geräte aufgesteckt. Hinzu kommen, in fast allen kommerziellen Gyms, verspiegelte Wände, auf denen die Trainierenden sich selbst und dem Mikrokosmos des Gyms als Bild begegnen. Schließlich arbeiten die meisten Trainierenden daran, mit ihrem Körper ein gutes Bild abzugeben und einem bestimmten Körperbild zu entsprechen.
Wer im Gym trainiert, trainiert folglich als Bildner mit Bildern als Sparringspartnern. Im Gym messen sich die Trainierenden mit Bildern, sie lassen sich von Bildern inspirieren, von Bildern deprimieren oder ablenken. Darin unterscheiden sich Gyms von gewöhnlich bildärmeren Trainingsstätten wie Sportplätzen oder Mehrzwecksporthallen. Schon in den ersten Gyms des 19. Jahrhunderts zierten Bilder oder Büsten von Athleten sowie anatomische Darstellungen die Wände, etwa in Eugen Sandows Sandow Institute in London oder im 1853 gegründeten Sozialistischen Turnverein in Milwaukee, Wisconsin.
In struktureller und funktioneller Hinsicht ähnelt die von den Betreibern kuratierte – nicht zwingend aber die von den Nutzern über individuelle Screens gesteuerte – Bildkultur im Gym der Bildkultur in katholischen Kirchen. Das sakrale Bildprogramm lädt zur Imitatio Christi ein. Die profanen Körper-Bilder des Gyms rufen auf zur Imitatio Arnoldi. In beiden Fällen hat das Bild nicht nur die Funktion eines Vor-Bilds, das zur Verkörperung eines bestimmten Welt-Bildes animiert, sondern auch die eines Mementos. Nicht im Sinne des Memento mortis, wie es im Mittelalter gebräuchlich war, sondern in dem eines modernen biopolitischen Memento vitae: Sei dir deiner Lebendigkeit bewusst! Bedenke, dass du leben sollst, ja leben musst!
Vielsagend in diesem Zusammenhang ist Gottfried Boehms bildphilosophischer Hinweis darauf, dass »Bilder […] Prozesse [sind], Darstellungen, die sich nicht darauf zurückziehen, Gegebenes zu wiederholen, sondern sichtbar zu machen, einen ›Zuwachs an Sein‹ (Gadamer) hervorzubringen. Ihre Existenz orientiert sich am ›Lebendigen‹ (Zoon), das die Griechen, woran Gadamer erinnert, als Name für das Bild gebrauchten.«6 Im Gym kann dieser »Zuwachs an Sein« sowohl auf die Funktionalität des Körpers wie auch auf die ästhetische Transformation als Selbstzweck bezogen sein. Vielleicht wäre die Formulierung »Zuwachs an Dasein« eher angebracht.
Mit der Digitalisierung und der massenhaften Verbreitung von Smartphones ist die Bildkultur im Gym noch lebendiger geworden – im körperlichen Sinne. Attestiert man bildanthropologischen Spekulationen, denen zufolge die Bildproduktion am Körper begonnen und sich dann von ihm gelöst habe, eine gewisse Plausibilität, so findet im Gym seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine doppelte Wiederannäherung der Bilder an die Körper statt:
Zum einen findet Bildproduktion sowohl mit dem als auch am Körper statt, hin zur lebendigen Statue (seit dem 19. Jahrhundert und verstärkt im 20. Jahrhundert).7 Dabei werden nicht nur, wie zuvor, Haut und Haare, sondern auch die darunterliegenden Muskelfasern systematisch geformt. Die bildnerische Körpergestaltung erfolgt von innen nach außen; die Struktur der Tiefe prägt die Ästhetik der Oberfläche.
Zum anderen werden Inszenierung, Reproduktion und Distribution des geb(u)ildeten Körpers im (post-)fotografischen Bild mithilfe von Digital Gadgets, die direkt am Körper getragen werden, vorangetrieben (seit dem 21. Jahrhundert).
Die erste Form der Wiederannäherung der Bilder an die Körper ist typisch für liberale Wohlstandsgesellschaften. Diese begünstigen die ästhetische Formung des Körpers als lebendige Skulptur: Bodybuilder sind Body-Bilder.8 Die Anfänge der westlich-modernen, urban geprägten Gym-Kultur liegen in der zweiten, tendenziell materialistisch orientierten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als Fitness-Pioniere wie der preußische Kraftsportler Eugen Sandow – er prägte den Begriff »Body Building« – und der Arzt Gustav Zander mit Maschinen, Geräten sowie freien Gewichten ausgestattete Trainingsinstitute gründeten, auf denen alle heutigen Gyms basieren. Insbesondere dem Schöngeist Sandow ging es nicht nur darum, fit zu werden, sondern auch darum, ein gutes Bild abzugeben, im doppelten Sinne »in Form« zu sein.
Die massenwirksame Demokratisierung der ästhetischen Formung des Körpers durch systematisches Training vollzog sich mit der angloamerikanischen Konsumkultur der Postmoderne. Sie ist Ausdruck der von Warren Susman analysierten Entwicklung von einer in Europa dominierenden »culture of character« hin zu einer US-amerikanisch geprägten »culture of personality« seit Beginn des 20. Jahrhunderts.9 Erstere setzte primär auf Innerlichkeit und Moral, letztere vermehrt auf Öffentlichkeit, Kommunikation, Inszenierung und Selbstvermarktung. In den Sozialen Netzwerken hat die »culture of personality« ihren vorläufigen Kulminationspunkt gefunden.
Auf YouTube, Instagram, TikTok und Co. lässt sich die zweite Form der Wiederannäherung der Bilder an die Körper mitverfolgen. Dort sind die im gleichen Zuge produzierenden wie konsumierenden Subjekte, in den Worten des Soziologen Andreas Reckwitz, Teilnehmer am »umfassenden sozialen Attraktivitätsmarkt, auf dem ein Kampf um Sichtbarkeit ausgetragen wird, die nur das ungewöhnlich Erscheinende verspricht. Die Spätmoderne erweist sich so als eine Kultur des Authentischen, die zugleich eine Kultur des Attraktiven ist.«10 Dieser Kampf ist zwar nicht neu. Verändert haben sich aber die quantitative Dimension, die Intensität und die technologisch-medial-soziale Umwelt, in dem er stattfindet. »Attraktiv«, also anziehend, sind im Sichtbarkeitskampf auch Menschen wie Rühl, die gezielt ein Freak-Image aufbauen und vermarkten. Als »ungewöhnlich« wiederum dürfen paradoxerweise auch diejenigen Körper gelten, die der Schönheitsnorm entsprechen, da normalerweise wenige Menschen normkonform sind. Norm ist nicht Normalität.
Eine entscheidende bildkulturelle Neuerung der Digitalisierung besteht darin, dass die immer kleineren, immer leichteren Bildapparate ständig unmittelbar am zu b(u)ildenden Körper getragen werden. Bildproduktion und Körperproduktion gehen im Gym – aber nicht nur dort – eine immer engere Liaison ein. Vielleicht wird die Kamera dereinst im buchstäblichen Sinne zur Handkamera werden; wird das Foto-Equipment in unser Fleisch implementiert wie heute schon Chipkarten, mit denen sich Türen öffnen und Produkte bezahlen lassen. Das ist die »Nature of Technology«, die W. Brian Arthur in seinem gleichnamigen Buch analysiert hat: Technologien werden immer »biologischer«, das heißt, sie lernen, passen sich unterschiedlichen Situationen an und reparieren sich selbst. Die Grenzen zwischen Natur und Technologie verschwimmen.11
Kehrte mit dem Wohlstand, der Liberalisierung und der Demokratisierung in der westlichen Moderne zuerst die Selbstinszenierung auf die Leinwand des Fleisches zurück, so folgen nun die Bildapparate. Marshall McLuhans Diktum, Medien seien Extensionen des Körpers und seiner Funktionen, erfährt hier eine konkrete Bestätigung. Der Body-B(u)il-der mit Smartphone mag kein »Prothesengott« (Sigmund Freud) sein (Göttinnen und Builderinnen sind mitgemeint). Aber vielleicht ist er ja ein moderner Prothesenprometheus. In jedem Fall ist er ein Teilzeit-Cyborg.
In prädigitalen Zeiten klaffte ein zeitlicher und oft auch räumlicher Riss zwischen der Produktion des fotogenen Körpers durch Training und Reproduktion dieses Körpers durch Bilder. Fotografierten oder filmten sich Trainierende vor dem Aufkommen handlicher Digitalkameras und Smartphones nach dem Workout oder, unter hohem Aufwand, punktuell während des Workouts, so kann heute der gesamte Trainingsprozess ohne große Mühe und ohne fremde Hilfe in Echtzeit dokumentiert, am selben Ort ausgewertet, bearbeitet und sofort mit anderen, räumlich weit entfernten Menschen über das Internet geteilt werden (# 2). Mit Felix Stalder gesprochen: »Der raumzeitliche Horizont der digitalen Kommunikation ist eine globale, das heißt ortlose Dauergegenwart. Die technische Vision der digitalen Kommunikation ist immer das Hier und Jetzt.«12 Auch Peter Sloterdijks Begriff der »Synchronwelt«, mit dem er das jüngste, primär (informations-) technologisch