Das Konzept Fellmer Lloyd/Ras Tschubai war ein letztes »Geschenk« an uns. An mich. Ich durfte auf keine weitere Unterstützung im Kampf gegen die Frequenz-Monarchie hoffen. Alles Weitere oblag mir. Meinen Freunden. Den Terranern.
Ich blickte Ras Tschubai an. Wie gut ich diesen Mann doch kannte! Über Jahrhunderte hinweg hatte er mich auf meinem Weg begleitet, hatte mich unterstützt und war mir ein treuer, aufrichtiger Freund gewesen. Wie sehr hatte ich mich auf seine Fähigkeiten verlassen, ihn immer wieder für die heikelsten Aufträge herangezogen.
Fellmer Lloyd, der nunmehr einen Körper mit Ras Tschubai teilte, war meinem Herzen ebenso nah. Der ruhige, fast unscheinbar wirkende Mann hatte gerne im Hintergrund gewirkt, und umso erstaunlicher war es gewesen, dass er zeitweise die Rolle des Wortführers im Mutantenkorps übernommen hatte. Ich hatte seine Verlässlichkeit geschätzt – und seine Gaben; der neben John Marshall und Gucky beste Telepath hatte zudem ausgezeichnete Orterfähigkeiten besessen.
Was sind die beiden eigentlich?, fragte ich mich. Sie starben, nachdem ihre Zellaktivatoren den Dienst einstellten. Ihre Mentalsubstanz ging im Augenblick ihres Todes auf ES über. Nun wurden sie wiedergeboren. Im Leib Tschubais, der durch nichts von seinem ehemaligen Körper zu unterscheiden ist.
So groß war die Macht von ES, dass der Tod seltsam gegenstandslos wurde, wie eine virtuelle Realität, aus der man jederzeit zurückkehren konnte. Aber – was wusste ich schon darüber, wie es sich anfühlte, wenn man starb und zurückgeholt wurde? Wurden sie überhaupt zurückgeholt oder handelte es sich lediglich um eine Art Kopie, nur unvergleichlich besser als alles, was unsere Wissenschaft ermöglichte und sich zudem des eigenen Status nicht bewusst? War Lloyd/Tschubai vielleicht nur das Ergebnis eines Back-ups, das ES von Zeit zu Zeit über die Zellaktivatoren anfertigte? Wir wussten so unendlich wenig über die Superintelligenz, als deren Günstlinge wir galten, obwohl wir immer alles zu wissen glaubten.
Ich wollte, konnte nicht weiterdenken. All die Konsequenzen, die sich aus ES' Tun ergaben, waren mir zu viel. Sie erinnerten mich an jene Augenblicke, da mein Leben ganz besondere Wendungen genommen und ich nicht mehr gewusst hatte, was die nächsten Sekunden bringen würden.
Damals, 1971 alter Zeitrechnung, als ich mir die Rangabzeichen der US Space Force von der Uniform gerissen und die Dritte Macht gegründet hatte. Damals, 429 NGZ, als ich vor dem Berg der Schöpfung gestanden hatte und die Antwort auf die Dritte Ultimate Frage nicht hören wollte. Damals, vor etwas mehr als 100 Jahren, als ich auf die Ritter-Aura verzichtet hatte ...
Ras Tschubai warf mir einen prüfenden Blick zu. Ahnte er, worüber ich nachdachte?
Die Tür öffnete sich, ein Maahk betrat den Raum. Alle drei sprangen wir auf; Ramoz zog sich einige Schritte zurück und stemmte sich mit seinen kräftigen Pfoten wie abwehrend gegen den Boden.
»Man hat Zeit für euch gefunden«, sagte der Methanatmer. »Ihr beide kommt mit.« Seine langen Arme deuteten auf Mondra und mich.
Ras Tschubai wollte etwas sagen. Ich nickte ihm zu und tippte an meinen Schädel. Wenn wir seine Hilfe benötigten, würden wir ihn gedanklich herbeirufen.
»Wir sind bereit«, sagte ich und folgte dem Maahk.
3.
Der Acroni
Perbo Lamonca glitt in die Dunkelheit. Andere Acroni verteilten sich auf die in die Tiefe der Station führenden Gänge und Schächte. Es wäre vernünftig gewesen, beisammenzubleiben, gewiss; doch Janius, das Gott unbotmäßiger Panik, breitete sich in seinem Kopf aus und erfreute sich an seinem Tun.
Er rutschte aus, fiel, kam schwerfällig wieder hoch. Zwei Büschel-Ornamente an den Oberarmen waren beschmutzt. Vetter und Vetterine Usulmu, denen diese Symbole gewidmet waren, würden zürnen, sobald sie von den Verunreinigungen erfuhren. Falls sie jemals davon hörten.
Perbo verbeugte sich mehrmals im Gebet nach allen Richtungen, bevor er weitereilte. Hinter ihm ertönten Geräusche, denen er zu entkommen trachtete. Das Blaffen von Strahlenschüssen ließ sein Oberfell zu Berge stehen, das Wimmern eines verletzten Geschöpfes brachte ihn an den Rand eines Nervenzusammenbruchs.
Er hatte so sehr gehofft, den Verfolgungen durch die Zuchtsoldaten der Frequenz-Monarchie entkommen zu können! Seit dem fluchtartigen Aufbruch von Acron war er stets auf den Beinen gewesen. Getrennt vom Familienverbund, kreuz und quer durch die metallene Kälte sogenannter Polyport-Höfe gehetzt und gejagt, den schlimmsten Ängsten ausgesetzt. Bis er gehofft hatte, auf DARASTO ein wenig Atem schöpfen zu können.
Doch er und all die anderen Flüchtlinge, die durch das Netz flüchteten, hatten sich getäuscht. Die Giftgaser waren beinahe noch schlimmer als die Soldaten der Frequenz-Monarchie.
Sie bekriegten einander! Bruder kämpfte gegen Bruder, ohne dass ein äußerlicher Unterschied zwischen den Angehörigen der beiden Gruppen zu erkennen war.
Perbo Lamonca hörte jemanden kommen. Er warf sich zu Boden und verbarg das Gesicht zwischen den Händen. Wenn er den Verfolger nicht sehen konnte – vielleicht würde er ihn dann auch nicht entdecken?
Die Götter der Dummheit streichelten und liebkosten ihn, keine Frage. Er war einer ihrer Favoriten. Er machte so viel Unsinn, und er gebrauchte seinen eigentlich scharfen Verstand viel zu wenig. – Doch was sollte er tun? Er war überfordert; er wusste kaum mehr aus noch ein.
So gern hätte er nun in einem der Diskurs-Höfe der Heimatstadt Oaniccos gesessen, um den Argumenten der einen oder anderen Seite zu lauschen. Auf Acron wurden Probleme stets im friedlichen Streitgespräch gelöst; mit atemberaubender Eleganz, meist unter Zuhilfenahme geschulter Mediatoren, Berater und Sparringpartner. Waffen waren in der Heimat weitgehend unbekannt. Das Auftauchen der Soldaten der Frequenz-Monarchie hatte jedoch alles geändert, hatte die Acronis in eine neue Rolle gezwungen ...
Perbos leise gemurmelten Gebete wurden erhört. Ein Fluggerät raste über ihn hinweg, ohne auf ihn zu achten, einem anderen Opfer der wilden Jagd hinterher. Neugierig und erleichtert zugleich lugte er zwischen den gespreizten Dreifingern hervor. Er sah einen Maahk, der mit atemberaubender Geschwindigkeit dahinschoss, wohl auf der Suche nach einem Opfer, das wie er selbst aussah – nach einem Feind.
Ein Lichtpünktchen blühte auf, wurde so groß und so breit wie der Gang, wurde zu einer Feuerlohe.
Perbo suchte nach Deckung. Er warf sich in eine Nische, kaum groß genug, um ihm Platz zu bieten, und hielt die Luft an. Nur Augenblicke später fauchte ein Schwall heißer Luft an ihm vorbei, gefolgt von diesem fürchterlichen Grollen, das für Tod und Verderben stand. Ohne Rücksicht auf das labile Gefüge des Stationsinneren hatte der Giftgaser geschossen und ein Inferno entfacht, dessen Hitze sich nach allen Richtungen ausdehnte.
Perbos Büschelkostüm drohte zu versengen. Sein ganzer Stolz, die Initiations- und Zugehörigkeitszeichen zur Großfamilie der Lamoncas! Nicht auszudenken, was dies für Konsequenzen nach sich ziehen würde! Er als Oberster Reliquien-Zündbefeuchter durfte mit versengten und verkokelten Ornamentik-Symbolen niemals mehr wieder an den Ritualen teilnehmen ...
Die Hitze ließ so abrupt nach, wie sie gekommen war. Es wurde still. Irgendwo knisterten erhitzte Metallplatten. Ein steinernes Etwas zersprang mit lautem Knall, weggesprengte Teile rasten wie Hartgeschosse umher und bohrten sich in Wände.
Vorsichtig lugte Perbo hinter seiner Deckung hervor. Ein Teil des Ganges war eingebrochen, bizarr verformte Elemente erlaubten kaum mehr ein Vorwärtskommen. Leisen Schrittes trat er näher und tastete über langsam auskühlende Ränder des Metalls, bevor er durch die Lücke schlüpfte und weitereilte.
Er vertraute seinen Instinkten. Sie sagten ihm, dass er möglichst weit weg vom Transportdeck musste, ungeachtet der Gefahren, die vor ihm warteten. Ein einzelner Gegner war etwas, das er verstand. Viel mehr Angst hatte er vor der Masse der Giftgaser, die durcheinanderschwirrten und rücksichtslos aufeinander feuerten.
Für eine Weile hielt er sich in einem leer stehenden Rekreationsraum versteckt,