Ich genieße die Ruhe am kleinen Touristenhafen neben dem Kasino. Zwei Ausflugsboote liegen an einem schmalen hölzernen Landungssteg. Ein Taucher sucht im seichten Wasser nach Seegurken. Sein Sauerstoffapparat steht am Ufer, daneben liegt eingerollt der lange Luftschlauch, der sich über die Erde ins Wasser ringelt und ohne Mundstück in seinem Mund endet. Der Mann hat sich mit einem Riemen ein Holzbrett auf den Rücken gebunden, das ihm Auftrieb gibt. Eine einfache Ausrüstung für die wertvolle Beute. Im Laden, der zum nahen Restaurant gehört, wird ein Kilo getrocknete Seegurken je nach Qualität zu einem Preis von bis zu hundert Dollar verkauft; ein Vermögen für hiesige Verhältnisse.
Wir sind unsicher, wie wir das, was wir sehen und erleben, einordnen sollen. Möchte man dem Strand anstelle des Fahrwegs aus Schotter eine Uferpromenade wünschen? Den Ausflugsbooten einen Landungssteg ohne verrostetes Geländer? Ein Mann kauert auf dem Steg und streicht die grüne Scheuerleiste eines der vertäuten Schiffe neu. Wäre seine Arbeit auf einem Tragflügelboot einfacher? Wenn Kim Jong-un seine Pläne verwirklicht, den Tourismus in Nordkorea stark auszubauen, wird diese Küste bald ausländischen Touristikunternehmen gehören und den gut erschlossenen Küsten in anderen Ländern gleichen. Für wen wird das gut sein?
Noch verschlägt es die wenigsten der gegen 10’000 Touristen aus dem Westen, die jährlich ins Land reisen, in diese Region. Die Infrastruktur dient vor allem den jährlich 50’000 Tagestouristen aus China, die das Kasino und das Umland besuchen und von den tiefen Preisen profitieren. Am Anfang kamen auch russische Gäste, doch inzwischen ist der Tourismus aus Russland zusammengebrochen; die Region bekommt neben den Wirtschaftssanktionen gegen Nordkorea auch diejenigen der USA und Europas gegen Russland zu spüren.
Die einzige Attraktion des Hafens bietet das fahrbereite Ausflugsboot aus Holz mit kleiner Kajüte, das einen vor eine nahe gelegene kleine Insel bringt. Wir gehen zusammen mit einem halben Dutzend chinesischer Ausflügler an Deck. Am Horizont über dem Meer ballen sich Wolken zu einem Gewitter zusammen, vor deren Dunkel die wild segelnden Möwen weiß aufblitzen wie Messer. Die Fischerboote, an denen wir vorbeifahren, sind von der Bordwand bis zur Kajüte voller Rost und sehen aus, als könnten sie jeden Augenblick auseinanderbrechen. Weil es kein Geld für neue Boote gibt, müssen sie mit allen Mitteln fahrtüchtig gehalten werden. Vor der Insel, einem Naturschutzgebiet, strecken Seehunde ihre Schnauzen aus dem Wasser, sonst ist auf der Fahrt nicht viel zu sehen. Das Boot kehrt im Bogen um, und wir gleiten wieder auf die Küste zu, gelbe Felder, hinter denen die mit grünem Buschwerk bewachsenen Hügel ansteigen, die das Hinterland vom Meer trennen.
Meer und Zivilisation bleiben in vorsichtiger Distanz. Korea, obwohl eine Halbinsel, war nie enthusiastisch zum Meer orientiert wie die mediterranen Länder. Vom Meer her fielen über Jahrhunderte fremde Völker und Piraten ein, von hier kamen Eroberer. Die Küste war unsicher. Während des Königreichs Chosŏn, das von Ende des 14. Jahrhunderts mehr als fünfhundert Jahre bestand, wurden keine Dörfer in Küstennähe angelegt. Auf die Bedrohung von außen antwortete Korea mit einer defensiven Strategie. Die heutige nordkoreanische Staatsidee der Abschottung hat tiefe Wurzeln.
Die zweite Erfahrung, die Korea im Verlauf der Geschichte machte, war die, keine vertrauenswürdigen Verbündeten zu haben. Fortwährend hatte man sich den Bestrebungen der Nachbarvölker zu erwehren, ihr Herrschaftsgebiet auf die koreanische Halbinsel auszudehnen. Während der von Mongolen gegründeten Yuan-Dynastie (1231–1368) versuchte der Yuan-Kaiser zweimal, das Koryŏ-Reich unter seine Kontrolle zu bringen, was letztlich nur für die Dauer eines Jahrzehnts gelang. Ende des 16. Jahrhunderts legte Japan das Land in Schutt und Asche, wurde aber nach einem achtjährigen Krieg zurückgeschlagen. Ein Jahrhundert später fielen die Mandschu ein, mussten sich jedoch damit zufriedengeben, von Korea nur als Hegemon im Norden anerkannt zu werden. Dass es keiner der Mächte gelang, Korea zu unterwerfen, führte bei den regierenden Eliten zu Selbstvertrauen, verbunden mit einer Politik der Zurückhaltung. Diese Strategie schloss rege Handelsbeziehungen mit ostasiatischen Staaten keineswegs aus. Sie wurde indes von den USA und den europäischen Seemächten, die sich im 19. Jahrhundert anschickten, an der südkoreanischen Küste Handelsniederlassungen zu gründen, als Abkapselung gegen außen gedeutet. Spätestens mit der Publikation des Buches Corea, the Hermit Nation von William Elliot Griffis 1882 setzte sich im Westen die Vorstellung von Korea als Einsiedlernation fest.4
Unterstützung von außen wurde Korea auch während der japanischen Kolonialisierung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum zuteil. Die koreanischen Widerstandskämpfer waren weitgehend auf sich gestellt; die junge Volksrepublik China griff in den Koreakrieg offiziell erst 1951 ein, als sie ihren Einfluss im Norden Koreas bedroht sah. Die Erkenntnis, sich nur selbst helfen zu können, prägte das Staatsverständnis Nordkoreas von Anfang an. Revolutionsführer Kim Il-sung lehnte sich wirtschaftlich und politisch zwar an den Ostblock an, steuerte aber einen von China und der UdSSR unabhängigen Kurs. Unmittelbar nach der Befreiung von der japanischen Besetzung und noch einmal Mitte der fünfziger Jahre schloss er die prochinesischen und die prosowjetischen Fraktionen in den Führungsgremien aus der Partei der Arbeit Koreas aus und ließ ihre Mitglieder hinrichten. Seine Chuch’e-Ideologie, auf die noch zurückzukommen sein wird (ausgesprochen dschudsche), sah vor, das Land aus eigener Kraft zu entwickeln, es mit einer starken Armee kampfbereit zu halten und es hinter einer Führerpersönlichkeit zu vereinen. Von diesen Prinzipien ist die Demokratische Volksrepublik Korea seither nicht abgerückt.
Im hinteren Teil des Restaurants in Rajin ist für uns ein kleiner Saal reserviert, in dem ein gedeckter Tisch steht. Der Blick fällt im Vorbeigehen in die Küche und in andere Räume, teils leer, teils mit chinesischen Touristen besetzt. Die Gruppen speisen voneinander und von den nordkoreanischen Gästen getrennt. Kaum haben wir uns gesetzt, werden die ersten Schalen hingestellt, eine Pilzsuppe, Maisnudeln, Kimch’i, Fisch. Auf einmal wird es ruhig im Raum, der Fernseher ist ausgefallen. Erst da bemerken wir, dass er gelaufen ist. Wir starren auf den leeren Monitor. Kurz darauf fällt das Licht aus. Eine Strompanne. Die Kellnerinnen, drei junge Frauen, stellen die Schüsseln auf der Anrichte ab und kommen mit Kerzen und Öllampen herbei, die sie im abgedunkelten Raum auf dem Tisch, in Nischen und auf den Fenstersimsen verteilen. Die Beleuchtung hat so rasch und routiniert gewechselt, dass man meinen könnte, es handle sich um eine geplante Aktion zur Unterhaltung der Gäste. Die Panne wird als vollkommen selbstverständlich hingenommen, niemand hält sich darüber auf. Man bemerkt kaum, dass die Deckenbeleuchtung, die wieder aufgeflackert ist, aufs Neue ausfällt. Das elektrische Licht ist nichts mehr weiter als eine Untermalung des Kerzenscheins und der Öllampen.
Die Maisnudeln sind dünn und zart, sehr fein im Geschmack. Alle essen mit Appetit, nur der Fahrer rührt sie nicht an. Er hat die Schale weggestellt und bestellt Reis. Am Mittag Maisnudeln zu essen, sei für ihn nicht gut, sagt er. Hat er Verdauungsprobleme? Nein. Es habe nichts mit seinem Magen zu tun. Am Abend esse er Maisnudeln wie jedermann. Aber am Mittag … er wolle das Schicksal nicht herausfordern. Wir schauen ihn erstaunt an.
Herr Kang reagiert als Erster, er wendet sich an uns. »Unser Genosse«, sagt er, »hat eben schlechte Erfahrungen gemacht. Er isst besser Reis.« Herr Lee nickt. Sein Nicken ist so bestimmt, dass sich weitere Fragen verbieten. Vermutlich wissen er und Herr Kang auch nicht mehr über das Geheimnis der Maisnudeln. Aber sie haben begriffen, dass der Fahrer ein Tabu mit sich herumträgt, das es zu respektieren gilt.
Wir werden gerade Zeugen davon, wie sie mit dem Einfall des Unsagbaren, das dem rationalen Verstand als Aberglaube erscheint, umgehen. Sie behandeln ihn wie einen Stromausfall, sie nehmen ihn zur Kenntnis und sprechen nicht darüber. Er wird in den Alltag integriert. Reis statt Maisnudeln. Der Fahrer gerät bei seinen Kollegen, die sich alle als Genosse anreden, nicht unter Verdacht. Er hätte die Schüssel auch stillschweigend übergehen können. Dass er das Tabu in unserer Gegenwart auf den Tisch gebracht hat, ist auch ein Vertrauensbeweis den Fremden gegenüber.
Von