Ein Präsidententreffen
Der Busfahrer steigt ein, wendet sich den Reisenden zu, legt die Hände mit den weißen Handschuhen vor seinen schlanken Leib und deutet eine Verbeugung an. Er heißt die Passagiere im Wagen willkommen und verspricht, sie sicher an ihr Ziel zu bringen. Dann setzt er sich in den Führerstand und fährt los.
Draußen ist es finster, die Fensterscheiben sind beschlagen, Tropfen sausen auf ihnen nach hinten, als säße man noch immer im Flugzeug und flöge durch eine Wolkenbank. Helle und dunkle Flecken wechseln sich ab, nehmen vorübergehend Konturen an, werden zu einer Insel, einem Schiff, verfließen wieder. Der Flughafen Incheon liegt auf einer vorgelagerten Insel im Gelben Meer, die Straße führt über einen Damm der südkoreanischen Hauptstadt Seoul zu.
Über dem Führerstand ist ein Bildschirm angebracht. Häuser sind darauf zu sehen, Hochhäuser, eine breite Prachtstraße, auf der ein Konvoi schwarzer Limousinen unterwegs ist. Im Hintergrund eine Skyline vor einem hellgrauen Himmel. Kein Regen, keine Wolken. Die Augen der Passagiere sind gespannt nach vorn gerichtet. Das kolossale Gebäude, das jetzt ins Bild kommt, ist der Regierungspalast in Pjöngjang. Es läuft eine Sendung über das politische Großereignis des Tages, das Treffen des südkoreanischen Präsidenten Moon Jae-in mit Nordkoreas Präsidenten Kim Jong-un. Die Delegationen steigen aus, die Kamera begleitet sie bis zur Tür.
Bilder aus dem nordkoreanischen Fernsehen werden eingeblendet: das Zeremoniell am Flughafen nach der Landung der südkoreanischen Delegation, das Meer winkender Hände und geschwungener Fähnchen, das Abschreiten der Ehrengarde. Man sieht die Mündungen der Rohre, aus denen die Ehrensalve abgefeuert wird, während die zugehörigen Kanonen unsichtbar bleiben.
»Hast du das gesehen?« Yu-mi, die vor mir sitzt, dreht sich nach mir um. »Unser Präsident hat sich soeben vor dem nordkoreanischen Volk verbeugt.« Eine rechtwinklige Verbeugung, das ist in Nordkorea sonst die Art, wie das Volk dem Herrscher seinen Respekt zu erweisen hat. Die Verbeugung eines Präsidenten vor dem Volk ist für die Nordkoreaner etwas Unerhörtes. »Und jetzt schau! Kim Jong-un kommt nicht umhin, seinerseits eine Verneigung anzudeuten.«
»Es sieht eher so aus, als schaue er diskret nach, ob seine Schnürsenkel gebunden sind.«
»Ja, diese Geste wird nur denen auffallen, die mit der Sprache der gängigen Rituale vertraut sind.«
Am Abend dieses Tages postet der Historiker Jeon Wooyong auf Facebook den Satz: »Moon Jae-ins Verbeugung wird im nordkoreanischen Bewusstsein eine tiefere Wirkung hinterlassen als zehn Milliarden Propagandaschriften.«
Das südkoreanische Fernsehen zeigt, wie die beiden Delegationen im Innern des Präsidentenpalasts Aufstellung genommen haben. Ein Tuscheln geht durch die Reihen der Passagiere, die dem Geschehen auf dem Monitor folgen.
»Die Kameras dürfen das Treffen filmen? Das hat es noch nie gegeben.« Yu-mi hat sich der grauhaarigen Frau zugewendet, die neben ihr sitzt. »Selbst in der Phase der Sonnenscheinpolitik, als sich Präsident Kim Dae-jung im Jahr 2000 zum Gipfeltreffen mit Kim Jong-il nach Pjöngjang begab, fielen die Türen hinter den eintretenden Präsidenten zu.«
»Ach, es wird wieder alles im Sand verlaufen«, sagt die Frau – Yu-mi übersetzt für mich das Gespräch. »Nordkorea hat damals mitten in der Sonnenscheinpolitik eine Atombombe gezündet, die halten sich an keine Abmachungen. Wann war das schon wieder?«
»2006 war das. Es waren aber die Amerikaner, die eine Annäherung sabotierten. 2002 hatte George W. Bush erklärt, Nordkorea gehöre zur Achse des Bösen. Spätestens nach dem Einmarsch der USA im Irak 2003 war abzusehen, was dies für Konsequenzen haben konnte. Nordkorea war gezwungen sich vorzusehen.«
»Solange sie nicht auf ihr Atomprogramm verzichten, wird es keinen Frieden und keine Wiedervereinigung geben«, beharrt die Frau.
»Erst müssen die USA die Garantien abgeben, die Nordkorea fordert, und ihren Boykott aufheben. Sonst wird Kim niemals einlenken.«
Die Kamera zoomt das Geschehen näher heran. Die beiden Staatsmänner unterzeichnen eine Vereinbarung. Darin erklären sie, die koreanische Halbinsel zu denuklearisieren. Sie reichen sich die Hand. Anschließend unterzeichnen die Verteidigungsminister ein Dokument, in dem ihre Staaten versprechen, sich gegenseitig Feindseligkeiten zu enthalten. Auch sie geben sich die Hand. Moon Jae-in hat eine hochrangige Wirtschaftsdelegation mitgebracht, ein Anzeichen dafür, dass man sich vom Treffen wichtige Impulse verspricht.
Dann beginnt alles von vorn. Der Sender wiederholt die Feierlichkeiten im Viertelstundentakt. Die Delegation landet, die Präsidenten schütteln sich die Hände, Moon verbeugt sich vor den nordkoreanischen Zuschauern. Vor dem Regierungsgebäude steigen die beiden aus den schwarzen Limousinen. Als unser Bus vor dem alten Gyeongbok-Palast im Zentrum von Seoul hält, unterschreiben sie gerade zum dritten oder fünften Mal ihre Erklärung, halten die Urkunde hoch, tauschen sie aus. Das Ereignis wird medial gefeiert wie ein Sieg bei der Fußballweltmeisterschaft.
Beim Aussteigen hat uns das Gesehene so sehr gefangen genommen, dass wir den Regen gar nicht bemerken und erst, als uns Wassertropfen übers Gesicht laufen, die Schirme aufspannen.
In der kleinen Pension in Insa-dong ist es ruhig. Der Besitzer, etwa Mitte vierzig, hat ein großes rundes Gesicht, das immer lacht. Yu-mi will sogleich seine Meinung über die Begegnung hören. Im Flugzeug hat sie stundenlang Zeitung gelesen. Was sie nicht vergessen will, lädt sie in den sichersten der Speicher hoch, in ihren Kopf. Der Besitzer der Pension weiß auch nicht mehr, als was im Fernsehen gezeigt wurde. Also beugt sie sich, nachdem wir die Zimmer bezogen haben und unten im Foyer sitzen, über ihr Tablet. Während ich nach dem langen Flug vor einer Tasse Tee mehrmals einnicke, ist sie am Vergleichen, Suchen, Aktualisieren. Am Dechiffrieren der symbolischen Gesten.
»Kim Jong-uns Vater Kim Jong-il hat während seiner ganzen Amtszeit keine einzige Pressekonferenz abgehalten, nicht einmal aus Anlass der beiden Gipfelgespräche 2000 und 2007«, sagt sie. »Sein Sohn dagegen pflegt einen Stil, der Öffentlichkeit demonstrieren soll. Es lohnt sich, das Arrangement genau zu studieren. Es sagt oft mehr als der Inhalt der unterzeichneten Dokumente aus.«
Die Ereignisse des zweiten Besuchstags werden ihr recht geben.
Der nächste Tag hält drei Überraschungen bereit. Als erster südkoreanischer Präsident spricht Moon Jae-in vor der nordkoreanischen Öffentlichkeit. 150’000 Nordkoreaner haben sich im Stadium Erster Mai in Pjöngjang versammelt, um ihm zuzuhören, ihm zu applaudieren, ihm zuzujubeln. Dann kündigt Moon vor seinem Abflug an, er habe den nordkoreanischen Präsidenten Kim Jong-un nach Seoul eingeladen; mit einem Besuch sei demnächst zu rechnen. Yu-mi klatscht in die Hände, auch wenn sie weiß, dass es eine Annäherung zwischen den beiden Staaten ohne das Einlenken von China und den USA nicht geben wird, wonach es im Moment nicht aussieht. Was sich an diesem Tag aber mit hochgradiger Bedeutung auflädt, ist der Ausflug der Präsidenten zum Paektusan.
Der Vulkanberg, über dessen Gipfel die heutige Grenze zwischen Nordkorea und China verläuft, gilt als spirituelle Geburtsstätte der koreanischen Nation. Kim Jong-un hat dem Wunsch seines älteren Amtskollegen stattgegeben, den dieser mit vielen Koreanerinnen und Koreanern teilt: einmal in seinem Leben den Himmelssee, den Kratersee des Paektusan, erblicken zu können. Allein die offenbar spontane, jedenfalls unangekündigte Abänderung des Protokolls ist eine Sensation. Sie zeigt den Willen der beiden Präsidenten, sich über Formalitäten hinwegzusetzen.
Im Fernsehen sieht man die beiden Männer mit ihren Gattinnen am See stehen, dessen Ufer nur von der nordkoreanischen Seite her zugänglich ist. Moon steht mit den Schuhen halb im Nassen. Er bückt sich, schöpft Wasser in eine Plastikflasche, die seine Frau aus ihrer Handtasche gezogen hat und die halb gefüllt