Florence saß zusammengesunken vor dem Vorhang, als sie einen Lichtstrahl unter der Tür aufleuchten sah. Ein Schlüssel wurde bewegt, die Tür ging auf. Sie erkannte Schwester Käthe. Eine Haarsträhne hing von ihrem Kopf. Die Schwesternhaube fehlte. Mit einer Gaslampe in der Hand leuchtete sie vorsichtig in das Zimmer. »Alles in Ordnung, Frau de Meli?«
Das Licht der Flamme blendete Florence’ Augen. Sie blinzelte.
»Na, was machen Sie denn da?« Die Stimme veränderte sich. Sie sprach mit Florence wie mit einem ungezogenen Kind. »Wenn ich das dem Doktor sage! Sie müssen doch ins Bett.«
Florence rutschte tiefer in die Falten des Vorhangs und hielt die Hand vors Gesicht.
»Nun kommen Sie! Da holen Sie sich doch den Tod. Am offenen Fenster …«
»Das Fenster ist nicht offen«, antwortete Florence und sah sie wütend an. »Man kann es gar nicht öffnen. Sie vielleicht, weil Sie einen Schlüssel haben oder wissen, wie dieser geheime Mechanismus funktioniert. Aber ich kann es nicht. Auch die Tür bekomme ich nicht auf. Sie haben mich eingeschlossen!«
»Das müssen wir am Anfang oft tun«, sagte Käthe und ging auf sie zu, um ihr aufzuhelfen, doch Florence wich zurück. »Viele Patienten wissen nicht, was für ein Glück sie haben, dass sie hier in Sonnenstein gelandet sind. Wir sind eine Reform-Anstalt. Was meinen Sie, was anderswo los ist? Da haben Sie nicht so ein schönes Einzelzimmer. Da werden sie mit den anderen Frauen in einen Schlafsaal gesteckt. Und eines sag ich Ihnen, Frau de Meli, solche Bettnachbarinnen wünsche ich mir nicht. Da sind Frauen darunter, die schrecken vor gar nichts zurück! Krank im Kopf. Verrückt, ganz und gar. Sie sind ja noch ein leichter Fall, Hysterie, na, meine Güte. Aber wir haben hier noch ganz andere … die haben in ihrem Wahn schon Menschen umgebracht.« Käthe war ganz nah an Florence herangekommen und leuchtete ihr ins Gesicht.
Florence roch den Atem der Schwester und drehte den Kopf zur Seite. »Ich lasse mir von Ihnen keine Angst einjagen!«
Die Wärterin lachte kurz auf.
Florence erhob sich. »Was ist mit der Frau, die so geweint hat?«
»Ach, das ist unsere Alwine. Die kriegt regelmäßig solche Anfälle. Macht alle anderen wach mit ihrem Geheule und fängt dann irgendwann eine Schlägerei an. Dann prügeln sich die Weiber. Das muss man sich mal vorstellen! Da hilft nur Strenge.«
»Was heißt das?«
»Frau de Meli, was soll das schon heißen? Bei Alwine müssen wir schnell sein. Bevor sie austeilt, kriegt sie erst mal selbst was auf die Finger. Dann ist meistens Ruhe.«
Florence stand mit verschränkten Armen vor der Wärterin. »Schwester Käthe, Sie sehen doch selbst, dass ich völlig gesund bin. Ich möchte morgen früh mit dem Arzt sprechen und ein Entlassungsschreiben bekommen. Ich bin hier ganz und gar falsch.«
Käthe schüttelte die Bettdecke auf und wies Florence an, sich wieder hinzulegen.
»Ach, wissen Sie, Frau de Meli, Sie sind nicht die Erste, die den eigenen Zustand nicht wahrhaben will.« Sie strich die Decke glatt und schob Florence zum Bett. »Morgen haben wir viel vor! Gute Nacht.«
»Ich habe Durst. Bitte bringen Sie mir ein Glas Wasser!«
Käthe hielt inne und sah ihre neue Patientin durchdringend an. »Na, das fällt Ihnen ja früh ein. Ich bringe Ihnen etwas.« Sie entfernte sich mit schnellen Schritten, zog die Tür von außen zu und schloss ab. Es war wieder dunkel im Zimmer. Florence war hellwach. Kurz darauf kehrte die Wärterin mit einem Glas Wasser zurück.
»Vielen Dank, Schwester Käthe. Bitte stellen Sie es auf dem Tisch ab«, versuchte Florence, höflich und freundlich zu sein.
Käthe schnaubte. »Nee, nee, Frau de Meli. Das Wasser trinken Sie aus, solange ich hier bin. Dann nehme ich das Glas wieder mit.«
»Was soll das?«
»Es gibt Menschen, die versuchen, sich mit Scherben die Pulsadern aufzuschneiden.«
Florence schluckte. Dann nahm sie gehorsam das Glas und leerte es vor den Augen der Wärterin.
»Ich seh schon, wir kommen miteinander aus. Gute Nacht!«
Jetzt drehte sich der Schlüssel endgültig im Schloss.
Florence kletterte wieder aus dem Bett und schlich zum Kleiderschrank. Vorsichtig öffnete sie die Tür. Sie knarrte. Sie wartete ängstlich, ob wieder ein Lichtschein unter der Zimmertür zu sehen war. Nein, alles blieb dunkel. Ihre Kleider waren ausgepackt und an Bügeln aufgehängt worden. Die blaue Truhe stand am Boden. Florence begann, die Kleider abzutasten. Vorsichtig zog sie die Unterwäsche aus ihrer Reisetasche. Sie befühlte die Stoffe und stellte erleichtert fest, dass die eingenähten Juwelen alle noch da waren. Zum Glück hatte man ihr die Kleider gelassen. Sie tastete ein weiteres Mal über das Innenfutter. Den Schmuck würde niemand so schnell entdecken, sie hatte gute Arbeit geleistet. Erleichtert strich sie über die Rückseite des fliederfarbenen Samtkleides, das sie erst vor Kurzem hatte anfertigen lassen. Ja, sie spürte die winzige Erhebung zwischen den Falten – die Brosche! Noch einmal berührte sie den festen Stoff. Sie konnte die Form mit dem Finger nachzeichnen. Die goldene Schlange mit den Rubin-Augen. Florence lächelte erleichtert. Das erste Mal an diesem Tag.
Sie sah die Handschrift von Méry Laurent vor sich. Wie schwungvoll sie schrieb, manchmal war es kaum zu entziffern. Aber jedes Mal eine Freude, wenn wieder ein Brief aus Paris ankam. Oft hatten sie sich nicht geschrieben. Henri missbilligte die Verbindung. Dabei war er es doch gewesen, der den Kontakt zur Schlangenbändigerin wollte. Damals, im Winter vor sechs Jahren. Florence hatte sich über seine strengen Bemerkungen hinweggesetzt. Die Briefe von Mademoiselle Laurent verliehen ihrem Leben als Ehefrau und Mutter in der amerikanischen Kolonie in Dresden so ein gewisses Fluidum, fand sie. Einmal waren sie sogar kurz davor gewesen, Méry in Paris zu besuchen. Doch Henri hatte die Reise urplötzlich abgesagt, und sie waren dann nach Italien aufgebrochen. Was für eine Enttäuschung! Florence sprach kein Italienisch, kannte niemanden in Rom und interessierte sich herzlich wenig für die antiken Überreste und das Kolosseum, das sie sich ansehen mussten. Alles nur, damit der kleine Henry begriff, was die alten Römer geleistet hatten. Schließlich entwarf sein eigener Vater den Lehrplan für den Jungen und mühte sich nach Kräften, dem Kind das Altertum schmackhaft zu machen. Florence schüttelte bei dem Gedanken den Kopf.
Aber immerhin hatte ihr Mann ihr vor ein paar Jahren den Wunsch nach einem Schmuckstück in Form einer Schlange erfüllt. Dieses Tier war für Florence ein Symbol geworden nach dem denkwürdigen Abend im Varieté im Dezember 1875. Die Frau mit diesen gewaltigen Tieren. Ein faszinierender und gleichzeitig abstoßender Anblick. Florence erinnerte sich ganz genau. Aber alles, was sie anschließend von Méry Laurent erfahren hatte, was sie aus ihrem Leben gemacht hatte, imponierte Florence. Von den Jenkins hatte sie gehört, dass dieser berühmte amerikanische Zahnarzt in Paris Méry die Treue hielt und sie mit Immobilien, Möbeln, Kunst und Mode überhäufte. Dazu gab es aber wohl auch andere Männer, hatte Clara Jenkins angedeutet. Méry selbst schrieb ihr, dass über sie Gedichte verfasst und von ihr Bilder gemalt wurden. Florence fand die Vorstellung großartig. Und – Méry war frei, musste sich nicht mit einem tobsüchtigen Ehemann herumplagen. Nur Kinder hatte sie keine. Vielleicht war das der Preis für so ein ungewöhnliches Frauenleben, überlegte Florence und war mit einem Schlag wieder in ihrer Gegenwart angekommen. Auch sie war hier ohne Kinder. Ihr Hals war wie zugeschnürt. Langsam hängte sie die Kleider zurück und schloss die Schranktür.
Wieder kamen ihr die Tränen. Sie zog die Bettdecke über ihr Gesicht. Wie konnte sie diesen Albtraum hier beenden? Zurückkehren in ihr altes Leben? Zurück zu ihren Kindern? Sie seufzte. Zum Glück konnte sie sich wenigstens auf Adele verlassen. Bestimmt hatte sie alle Briefe zur Post gebracht – auch das