Henri leerte das Glas. Dann läutete er noch einmal nach dem Mädchen. »Bringen Sie mir noch etwas Wasser!« Er war kaum zu verstehen. »Danach können Sie Feierabend machen. Ich komme allein zurecht«, sagte er, ohne aufzusehen.
Adele verstand das Gemurmel, sie erlebte ihren Arbeitgeber nicht zum ersten Mal in dieser Verfassung. Wie gut konnte sie ihre Herrin verstehen, die sich ein eigenes Schlafzimmer ausbedungen hatte, dachte sie, während sie mit einem sauberen Aschenbecher und der gefüllten Karaffe ins Herrenzimmer zurückkam. Henri starrte ins Feuer und schien sie nicht zu bemerken. »Gnädiger Herr, ich wünsche Ihnen eine gute Nacht!«, sagte sie. Henri blickte nicht auf und raunte etwas Unverständliches. Adele schloss die Tür.
In der Küche band sie die Schürze ab und ließ sich auf die hölzerne Eckbank fallen. Endlich konnte sie das weiße Häubchen aus den Haaren lösen. Sie hatte es so stramm festgesteckt, die Nadeln drückten, ihre Kopfhaut schmerzte. Der Küchenwecker tickte laut. In einer Stunde war es Mitternacht. Sie gähnte. Um fünf, spätestens um halb sechs würde sie wieder auf den Beinen sein müssen. Viel zu wenig Schlaf! Hoffentlich konnte die gnädige Frau heute Abend zur Ruhe finden. Sie war so verzweifelt. Adele rieb sich die Augen. Mehrmals hatte sie im Laufe des Abends versucht, Gesprächsfetzen im Herrenzimmer aufzuschnappen, wo sich Henri mit dem Doktor unterhielt. Meistens schwiegen die beiden Männer, wenn sie den Raum betrat, als ahnten sie, dass Adele einen heimlichen Auftrag hatte. Nur gegen Ende des Treffens beachteten sie das Dienstmädchen nicht weiter. Erst da konnte Adele hören, um was es ging.
Pirna, hörte sie. Pirna Sonnenstein. Zur Ruhe kommen. Keine Wunder erwarten, sagte Dr. Zumpe immer wieder. Braucht seine Zeit. Henri pflichtete ihm bei. Drängte ihn zu einem Absinth. Der Doktor lehnte ab und beließ es beim Wasser und einem Glas Bier. Für die Kinder, es ist für die Kinder. Sie brauchten doch eine gesunde Mutter, sagte Henri fast beschwörend. Der Arzt nickte. Ja, für die Kinder.
»Leider haben die Kuren in Franzensbad in diesem Sommer und in Karlsbad vor zwei Jahren nicht die erwartete Wirkung gezeigt«, stellte Zumpe bedauernd fest.
Henri schnaubte ärgerlich. »Im Gegenteil. Ganz im Gegenteil.«
»Wie meinen Sie das, Herr de Meli? Mir schien Ihre Frau nach den drei Wochen in Franzensbad aufgeräumt und ausgeglichen zu sein«, entgegnete Dr. Zumpe.
»In gewisser Weise haben Sie nicht unrecht. Aber … es lag weniger an den Heilanwendungen als am sonstigen Zeitvertreib«, erklärte Henri bissig.
»Nun, wie soll ich das verstehen?«
»Vermutlich so, wie Sie es verstanden haben. Florence hat keinen gefestigten Charakter, so will ich es einmal sagen. Sie kann ein herzensguter Mensch sein, aber es fehlt ihr an Reife. An moralischer Reife, wenn Sie verstehen, was ich meine«, holte Henri aus.
Der Arzt nickte. »Das ist bedauerlich. Und eine schwere Bürde für Sie, mein lieber Herr de Meli. Ich bewundere Ihre Abgeklärtheit und Ihre Bereitschaft, selbst Opfer zu bringen, damit Ihre Gattin die nötige Ruhe bekommt, um zu genesen. Denn Sie werden in dieser Zeit allein zurechtkommen müssen. Nicht einfach mit zwei Kindern, die noch so jung sind. Zum Glück haben Sie Ihre Familie in Dresden. Sie wird Ihnen den nötigen Rückhalt geben, nehme ich an.«
Henri schluckte ergriffen. Zum ersten Mal erkannte jemand, wie schwierig seine eigene Rolle in dieser Angelegenheit war. Wie allein er dastehen würde! Was für eine Schmach es war, die eigene Ehefrau in eine Heilanstalt einweisen zu lassen! Ihm kamen die Tränen. Nie hatte seine Mutter diesen Aspekt erwähnt, seit sie ihm vor Monaten zum ersten Mal von der Idee erzählt hatte. Und vielleicht würde eine solche Behandlung Florence tatsächlich auf den richtigen Pfad bringen. So wie Frau von Weber. Und wenn nicht? Dann war wenigstens keine Scheidung vonnöten. Denn eine Ehe konnte kurzerhand aufgelöst werden, wenn die Ehefrau geisteskrank war. Das hatte ihm Max von Weber erklärt.
Adele sah die Tränen nicht, die in Henris Augen schimmerten. Zu dem Zeitpunkt war sie bereits wieder in der Küche und versuchte, sich zu beruhigen. Es war also richtig, was die gnädige Frau erzählt hatte. Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Aber wieso kamen die Männer denn nur darauf, dass Frau de Meli krank sei? Sie war doch fast immer freundlich, oft fröhlich, jedenfalls wenn sie mit den Kindern allein war. Adele wusste es. Und sie wusste auch, dass von den befreundeten Hausmädchen in Dresden keines ein solches Glück mit seiner Herrschaft hatte wie sie mit Florence. Die anderen hatten viel mehr auszustehen. Adele überlegte. Ja, manchmal war die gnädige Frau Opfer ihrer Launen, das war nicht von der Hand zu weisen. Und die Migräne-Attacken, wenn die Vorhänge zugezogen werden mussten, waren tatsächlich häufiger geworden. Aber deshalb gleich in eine Heilanstalt? Überhaupt »Heilanstalt« – das war doch bloß ein besseres Wort für »Irrenanstalt«. Adele schnaubte. Ein abgekartertes Spiel war das. Florence de Meli war nicht verrückt. Sollte doch der gnädige Herr in eine Heilanstalt gehen. In eine Trinkerheilanstalt!
Als der Arzt aufbrach, erinnerte er Henri an das braune Tütchen mit dem Pulver, das er Florence am Mittag gegeben hatte. »Denken Sie daran, Herr de Meli, dieses Pulver wird Ihre Frau beruhigen. Das Mittel heißt Chloralhydrat und ist ein starkes Beruhigungsmittel. Vorsichtshalber lasse ich Ihnen auch noch ein paar Pillen da. Es wäre gut, wenn Ihre Frau eine davon oder einen Teelöffel von dem Pulver vor ihrer Abreise bekäme. Es würde die Sache leichter machen«, sagte Julius Zumpe bestimmt.
Henri nickte und hielt das Röhrchen mit den weißen Tabletten fest in der Hand. Diese Anweisung bekam Adele nicht mit.
Das Dienstmädchen war noch zweimal zu Florence gehuscht, um ihr das übrige Gehörte mitzuteilen. Beim ersten Mal fand sie ihre Herrschaft über den Näharbeiten sitzen. Die Juwelen hatte sie sorgfältig in verschiedene Unterkleider und in ein Fischbeinkorsett eingenäht. Den Beutel mit den ungeschliffenen Diamanten, die Henri unlängst aus einer Mine in Südafrika mitgebracht hatte, übergab sie Adele. Das dunkelblaue Samtsäckchen wog schwer in ihrer Hand.
»Geben Sie gut Acht, Adele, auch wenn man es so kaum erkennen kann, es sind Rohdiamanten, bestimmt einige Karat, hat Henri gesagt.« Florence klang konzentriert und klar. Dann sah Adele die kleine blaue Reisetruhe. Der Deckel stand offen. Florence hatte Wäsche hineingelegt, ein Bündel Briefe und einige Stoffsäckchen.
Unter dem Nähkästchen zog Florence noch einen Brief hervor. Auf dem Umschlag las Adele »Paris«.
»Dieser Brief ist sehr wichtig! Bitte bringen Sie ihn morgen früh direkt zum Postamt«, wies Florence sie an.
Adele nickte und nahm den Umschlag entgegen.
»Vielleicht ist Paris meine Rettung«, murmelte Florence. »Aber wahrscheinlich hat sie mich längst vergessen.«
»Sie haben eine Tante in Paris«, begann Adele.
Florence winkte ab. »Nein, nein, meine Tante ist nach Amerika zurückgekehrt. Alle aus meiner Familie kehren über kurz oder lang nach Amerika zurück. Wenn sie die Zeit noch haben … Nicht so wie meine lieben Eltern.« Sie begann zu weinen.
»Oh, gnädige Frau, es tut mir leid!« Adele war zerknirscht.
»Schon gut. Schon gut. Ich denke oft an meine Eltern. Und immer wenn Henri es nicht mitbekommt, besuche ich ihr Grab auf dem Trinitatisfriedhof. Warum hat er sie nur so gehasst? Nicht einmal verabschieden durfte ich mich von meiner Mutter, als sie im Sterben lag. Meinem Vater brach es das Herz. Ich glaube, er wollte sie nicht allein lassen in der Fremde …« Ihre Stimme war zu einem Flüstern geworden.
Adele seufzte. »Bitte, gnädige Frau, Sie dürfen jetzt nicht an das Vergangene denken. Lassen Sie den Toten ihren