Durch die Arbeit von Carson und anderen Wissenschaftlern, die die Auswirkungen von Industriegiften auf Mensch und Umwelt untersuchten, entstand in den 1970er Jahren ein Bewusstsein für weitere Bedrohungen. So wurde beispielsweise die durch die Kraftstoff- und Farbenindustrie verursachte Bleibelastung unter die Lupe genommen. Deshalb »Bühne frei« für Herbert Needleman, dessen Schicksal auf verstörende Weise an Thomas Stockmanns aus Ibsens Schauspiel erinnert: Needleman war Professor und Forscher an der medizinischen Fakultät der Universität von Pittsburgh. Seine Forschungsarbeiten wiesen auf einen Zusammenhang zwischen der Bleibelastung in der Umwelt und der Entwicklung des Gehirns im Kindesalter hin. Vertreter der Bleiindustrie versuchten daraufhin, Prof. Needleman und seine Untersuchungen zu diskreditieren, indem sie eine Rufmordkampagne starteten, die unbegründete Anschuldigungen wegen angeblicher wissenschaftlicher Verfehlungen enthielt.13 Needleman wurde entlastet, und zwar gleich zweimal. Die erste Entlastung war das Ergebnis einer gründlichen Untersuchung durch die National Institutes of Health (Nationale Gesundheitsinstitute). In einer Art wissenschaftlichem Äquivalent zur doppelten Strafverfolgung leitete Prof. Needlemans eigene Universität ebenfalls eine Untersuchung ein, während der ihm Zugang zu seinen Akten verwehrt wurde. Es gab keinerlei Anzeichen von Fehlverhalten. Im Gegenteil: seine Forschungen zum Nachweis von chronischer Bleiexposition, die in den vergangenen Jahrzehnten durch zahlreiche unabhängige Studien validiert wurden, haben wahrscheinlich Tausende von Leben gerettet und Hirnschäden bei Tausenden weiteren Menschen verhindert.14 Ist er ein Volksfeind? Wohl kaum!
Globalisierung des Leugnens
In den 1970er und 1980er Jahren wurden zum ersten Mal globale Umweltbedrohungen wie saurer Regen und Ozonabbau beobachtet. Industriekonzerne, die ihre Gewinne durch Umweltvorschriften in Gefahr sahen, begannen damit, wissenschaftliche Untersuchungen und die Wissenschaftler selbst, die diese Bedrohungen aufzeigten, anzugreifen.
Frederick Seitz, dem Urvater des Leugnertums, der von der Tabakindustrie in deren Kampf gegen die Wissenschaft angeheuert worden war, wurden von Seiten der Industrie Mitte der 1980er Jahre umfangreiche Finanzmittel zur Gründung des George C. Marshall Institute zur Verfügung gestellt.15 Als Partner rekrutierte Seitz den Astrophysiker Robert Jastrow, Gründer des ehrwürdigen NASA Goddard Institute for Space Studies, und den Ozeanographen William Nierenberg, ehemaliger Direktor der angesehenen Scripps Institution for Oceanography in La Jolla, Kalifornien. Wie Naomi Oreskes und Erik M. Conway in ihrem 2010 erschienenen Buch Merchants of Doubt (Die Machiavellis der Wissenschaft) feststellten, könnte man diese drei als Fundamentalisten der freien Marktwirtschaft bezeichnen. Keiner von ihnen hatte eine Ausbildung in Umweltwissenschaften. Was sie jedoch besaßen, war ein ideologisches Misstrauen gegenüber jeglichen Bestrebungen, die ihrer Meinung nach die Freiheit von Einzelnen oder Unternehmen einschränkten. Von daher ließen sie sich bereitwillig für regulierungsfeindliche Einzelinteressen einspannen.16 Mit ähnlicher Taktik, die Seitz zehn Jahre zuvor im Dienst der Tabakindustrie eingesetzt hatte, säte das GMI-Team Zweifel in den Bereichen der Wissenschaft, die sich für die mächtigen Interessen, die sie vertraten, als bedrohlich erwiesen.
Eines dieser wissenschaftlichen Themen war der saure Regen, ein Phänomen, mit dem ich aus meiner Kindheit in den 1970er Jahren in Neuengland bestens vertraut bin. Damals wurden Seen, Flüsse, Bäche und Wälder im gesamten östlichen Nordamerika durch zunehmend saure Regenfälle stark in Mitleidenschaft gezogen. Ein Wissenschaftler namens Gene Likens und andere Kollegen kamen dem Problem auf die Spur: Es waren Kohlekraftwerke im Mittleren Westen der USA, die die Umwelt mit Schwefeldioxid verschmutzen. Likens würde später zum Nachhaltigkeitsbeauftragten der Universität von Connecticut ernannt.
Im April 2017 hielt ich einen Vortrag an der Universität von Connecticut, bei dem ich über eigene Erfahrungen im Fadenkreuz der Klimawandelleugner berichtete. Beim Abendessen im Anschluss an den Vortrag saß Likens neben mir. Wir kamen ins Gespräch und er berichtete von verblüffend ähnlichen Erfahrungen: fiese Briefe und Beschwerden an seine Vorgesetzten, feindselige Aufnahme durch konservative Politiker und Angriffe von durch die Industrie finanzierten Helfershelfern und Politikern, die versuchten, seine wissenschaftlichen Erkenntnisse zu diskreditieren. Vor ein paar Jahren drückte Likens es in einem Interview so aus: »Es war schlimm. Es war wirklich scheußlich. Man hatte quasi Auftragskiller auf mich angesetzt.«
Likens bezog sich auf einen Branchenverband der Kohleindustrie namens »Edison Electric Institute«, der fast eine halbe Million Dollar als Belohnung dafür ausgeschrieben hatte, ihn in Verruf zu bringen.17 William Nierenberg, das bereits erwähnte Mitglied des GMI-Trios, nahm diese Herausforderung an, als Ronald Reagan ihn zum Vorsitzenden eines Gremiums zur Untersuchung des sauren Regens ernannte. Die Fakten erwiesen sich jedoch als hartnäckig, und die Schlussfolgerungen des Gremiums, die 1984 in einem Bericht veröffentlicht wurden, bestätigten weitgehend die Erkenntnisse von Likens und anderen wissenschaftlichen Experten. Aber in einem Anhang, der von einem konträren Wissenschaftler namens S. Fred Singer verfasst worden war, war eine Passage versteckt, die nahelegte, dass die Sachlage nicht eindeutig genug war, um Emissionskontrollen einzuführen. Diese Passage genügte der Reagan-Regierung als Rechtfertigung für ihre Politik der Untätigkeit.18
Zum Glück setzten sich die Kräfte der Leugnung und Untätigkeit letztendlich nicht durch. Die amerikanische Öffentlichkeit erkannte das Problem und forderte Maßnahmen, die Politiker reagierten schließlich. Genau so soll es in einer repräsentativen Demokratie funktionieren. George H.W. Bush, wohlgemerkt ein republikanischer Präsident, unterzeichnete 1990 den Clean Air Act (Luftreinhalteverordnung), der die Betreiber von Kohlekraftwerken dazu verpflichtete, Schwefel aus dem Rauchgas abzuscheiden, bevor er aus den Schornsteinen austrat. Er führte sogar einen als »Cap and Trade« bekannten marktbasierten Emissionshandel mit festen Obergrenzen ein. Ironischerweise wird das Cap-and-Trade-Prinzip heute von den meisten Republikanern angeprangert. Die Idee für das Prinzip geht auf William K. Reilly zurück, der unter George H.W. Bush Leiter der Umweltschutzbehörde (EPA) war. Reilly ist ein moderner Umweltheld, und ich bin stolz darauf, ihn zu kennen und meinen Freund nennen zu dürfen.
Meine Familie macht häufig Urlaub am Big Moose Lake in den westlichen Adirondacks (Gebirge im nordöstlichen Teil des US-Bundesstaates New York). Die Familie meiner Frau geht bereits seit siebzig Jahren dorthin. Ihre Eltern erinnern sich an die 1970er Jahre, als der See so säurehaltig war, dass man buchstäblich nicht duschen musste: Ein Sprung in den See, und schon war man sauber. Das Wasser war kristallklar, jedoch leblos. Inzwischen ist die Tierwelt zurückgekehrt und wir können sie sehen und hören, wenn wir dort sind: Insekten, Fische, Frösche, Enten, Schildkröten – und die eindringlichen Rufe der Seetaucher. Manchmal sieht man kleine Teams von Wissenschaftlern in Booten, die Wasserproben sammeln und untersuchen. Die betroffenen Ökosysteme haben sich noch immer nicht vollständig erholt, da Umweltverschmutzung die Nahrungsketten, Waldökosysteme und die Wasser- und Bodenchemie so stören kann, dass die Schäden noch Jahrzehnte oder Jahrhunderte andauern, selbst wenn die Schadstoffe gar nicht mehr vorhanden sind. Aber dank – ich traue mich es einmal so zu sagen – marktbasierter Mechanismen zur Lösung eines Umweltproblems, sind die Adirondack Mountains auf dem Weg der Besserung.
In den 1980er Jahren erkannten Wissenschaftler, dass Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKWs), die damals in Sprühdosen und Kühlschränken verwendet wurden, für das wachsende Ozonloch in der unteren Stratosphäre verantwortlich waren. Die Ozonschicht schützt uns vor der schädlichen, energiereichen ultravioletten Sonnenstrahlung. Die Erosion dieser Schicht brachte ein häufigeres Auftreten von Hautkrebs und anderen gesundheitsschädlichen Auswirkungen in der südlichen Hemisphäre mit sich. Mein Freund Bill Brune, der ehemalige Leiter der Abteilung für Meteorologie an der Staatlichen Universität von Pennsylvania (Penn State University), war einer der ersten Wissenschaftler, die die relevante atmosphärische Chemie erforschten. Er schrieb: »Einige der Wissenschaftler, die diese bahnbrechende Forschung durchführten, haben beschlossen, sich für Maßnahmen zur Minderung der durch einen Abbau der Ozonschicht verursachten Schäden einzusetzen. Diese Wissenschaftler waren heftiger Kritik ausgesetzt.«19 Jene Kritik nahm, wie Bill feststellte, unterschiedlichste Formen an: »Hersteller und Anwender von FCKWs und ihre Regierungsvertreter initiierten