MIT RACHEGEFÜHLEN UMZUGEHEN war sie nicht gewohnt.
In geschäftlichen Angelegenheiten gab es Zeiten, in denen die Dinge anders liefen als geplant und sie sich als Verliererin wiederfand. Dennoch betrachtete sie es als rein geschäftliche Angelegenheit, und diejenigen, die ihr Probleme bereiteten, übten einfach nur ihr Recht aus, die Dinge so zu regeln, wie sie es für richtig hielten.
Das hier war anders. Er hatte es in etwas Persönliches verwandelt – in etwas sehr viel Persönlicheres, als sie es sich je hätte vorstellen können.
Sie lag im Dunkeln da, fror trotz der dicken Bettdecke, und dachte an den Tag, der in Kürze anbrechen würde.
Sie würde ihn kriegen. Sie würde ihm wehtun. Der Gedanke brachte keinen Frieden. Er flitzte ungehemmt in ihrem Kopf herum, sprang von Schmerz zu Schmerz.
Sie betete, dass sie ruhig und beherrscht sein würde, wenn der Augenblick kam. Vielleicht war es Rache, die sie suchte, aber sie sollte still vonstattengehen und diskret.
1
ES WAR DER FREITAG vor dem Labour Day Wochenende, dem letzten Wochenende des kanadischen Sommers, und Ava Lee erwachte in dem Bewusstsein, dass die beiden Monate, die sie in relativer Zurückgezogenheit verbracht hatte, dem Ende zugingen.
Einen Augenblick lag sie still da, lauschte auf das Gezwitscher, mit dem die Vögel sie jeden Morgen durch das offene Schlafzimmerfenster begrüßten. Sie hörte die Blätter rascheln und das Wasser des Sees gegen den Steg schwappen und wusste, dass Wind aufgekommen war.
Sie bewegte ihre Beine und verspürte ein Brennen im rechten Oberschenkel. Zweieinhalb Monate zuvor war sie beim Eindringen in ein Haus in Macao angeschossen worden. Zum Glück hatte die Kugel keinen Knochen erwischt und keine Arterie verletzt. Sie war zwei Tage später nach Kanada zurückgeflogen und hatte Krücken benutzt, die bald durch einen Stock und später durch Humpeln ersetzt worden waren. Zu ihrer Überraschung war sie in der Lage gewesen, kurz nach ihrer Ankunft in dem Cottage mit einem bescheidenen Workout zu beginnen. Da sie außerordentlich fit war und die Kugel keinen tiefergehenden Schaden angerichtet hatte, ging es im Wesentlichen um die Behandlung der Schmerzen. Morgens spürte sie in dem Bein für gewöhnlich gar nichts, doch dann meldete sich der Schmerz wieder, willkürlich, brennend und pochend; er schien zu zucken, schien fast lebendig.
Ava war auf Schuldeneintreibung spezialisiert. Es war ein Job, der Gefahr mit sich brachte, und im Laufe der mehr als zehn Jahre, die sie mit Onkel, ihrem Partner in Hongkong, inzwischen zusammenarbeitete, hatte man mit dem Messer auf sie eingestochen, sie getreten und mit Fausthieben traktiert, mit einem Montiereisen geschlagen und mit einem Gürtel ausgepeitscht. Nichts von alledem hatte sie dauerhaft gezeichnet; nichts davon suchte sie so beharrlich heim wie die Muskelerinnerung an diese Kugel.
Sie schlug die Decke zurück und betrachtete ihr Bein. Der Arzt in Macao hatte gute Arbeit geleistet, als er die Kugel aus ihrem Schenkel entfernt und die Wunde versorgt hatte, aber er war kein kosmetischer Chirurg. Maria, ihrer Geliebten, hatte es den Atem verschlagen, als sie die rohe rote Narbe das erste Mal sah, die sich schließlich in einen weniger hässlichen rosafarbenen Wurm verwandelt hatte.
Sie glitt aus dem Bett, zog ihre Adidas-Trainingshose an und verließ das Schlafzimmer. Sie tappte leise durch den Flur, um ihre Mutter nicht zu stören, und trat in die Küche. Heißes Wasser stand in der Thermosflasche, die sie aus ihrer Wohnung in Toronto mitgebracht hatte, auf dem Küchentresen bereit. Sie öffnete ein Tütchen Starbucks VIA Instant Coffee und bereitete sich ihre erste morgendliche Tasse Kaffee zu.
Die Sonne stand schon ein gutes Stück oberhalb des Horizonts, aber Ava konnte noch die letzten Reste des Morgentaus auf dem Holzsteg glitzern sehen. Sie öffnete die Küchentür und verspürte eine leichte Kühle in der Luft. Sie zog ihre Adidas-Trainingsjacke über, steckte das Handy ein, schnappte sich ein Geschirrtuch, klemmte sich den Laptop unter den Arm und ging, den Kaffee balancierend, über das nasse Gras zum Steg hinunter.
Ava begann jeden Morgen mit einem Kaffee und ihren elektronischen Geräten auf dem Steg. Sie wischte den Tau von dem hölzernen Muskoka-Stuhl und ließ sich darin nieder. Ihr Kaffee fand auf der einen breiten Armlehne Platz, ihr Laptop bequem auf der anderen. Sie schaltete den Computer ein und dann das Handy.
Es war kurz nach neun, und die E-Mails aus jenem Teil ihrer Welt, in dem der Tag gerade anbrach, kamen als Erstes. Maria hatte um acht Uhr gemailt. Ich habe eine Platzkarte für den Bus nach Casino Rama, der heute Nachmittag um vier hier abfährt. Ich werde gegen 17:30 beim Rama ankommen. Soll ich ein Taxi zum Cottage nehmen?
Ava wollte gerade antworten, doch dann griff sie zum Telefon. Maria würde inzwischen an ihrem Schreibtisch in der kolumbianischen Handelskommission sitzen. Sie wählte ihre Durchwahlnummer.
»Hallo, mein Liebling«, sagte Maria.
»Ich hole dich am Casino Hotel ab«, sagte Ava.
»Deine Mutter zieht wieder ins Hotel?«
»Ja.«
»Sie mag mich nicht.«
»Das ist nicht wahr.«
»Sie mag mich nicht um sich haben, und wenn es sich nicht vermeiden lässt, sagt sie nie mehr als zwei Dinge zu mir: dass ich gute Manieren habe und dass mir kräftige Farben gut stehen.«
»Das sind Komplimente.«
»Sie fühlt sich unbehaglich in meiner Gesellschaft.«
»Nein, sie fühlt sich unbehaglich in unserer Gesellschaft. Obwohl wir nie darüber gesprochen haben, weiß ich, dass sie nicht im Cottage bleiben kann, wenn du hier bist, weil sie nicht aufhören könnte, daran zu denken, was in unserem Schlafzimmer vorgeht. Sie ist sehr chinesisch und sehr katholisch, und so sehr sie sich auch um Verständnis bemüht – es hat Grenzen. Ist deine sehr kolumbianische, sehr katholische Mutter anders?«
»Nein«, erwiderte Maria leise.
»Dann sehe ich dich also heute Abend. Die Wettervorhersage für das Wochenende ist phantastisch.«
Ava wandte sich wieder ihrem Laptop zu. Ihre Schwester Marian hatte ihr eine ihrer typischen neuigkeitsgespickten E-Mails geschickt. Die Mädchen gehen ab Dienstag wieder in die Schule. Neue Uniformen für sie dieses Jahr. Ich habe sie vor über einem Monat gekauft, und währenddessen musste ich daran denken, wie Mummy das immer bis auf den letzten Drücker aufgeschoben hat und wie wir dann immer in langen Schlangen anstehen mussten, was Stunden dauerte, und am Ende hatten wir Glück, wenn wir noch Uniformen in unserer Größe bekamen.
Ava seufzte. Ihre Mutter und ihre Schwester waren Persönlichkeiten, die nicht gut zusammenpassten, eine Tatsache, die noch brisanter wurde, als Marian einen spießigen Beamten heiratete, einen gweilo, der nicht in der Lage war, eine Frau wie Jennie Lee zu verstehen.
Und ich fasse es nicht, dass sie tatsächlich zwei Monate lang bei Dir im Cottage geblieben ist, fuhr Marian fort. Uns hat sie in unserem Cottage in den Gatineaus nur ein einziges Mal besucht und für nicht mal eine Woche. Sie hat gesagt, sie mag keine Kriebelmücken, Eichhörnchen, Waschbären, Pferdebremsen, Stechmücken, unbefestigten Wege und kalten Seen.
Umarme die Mädchen von mir, antwortete Ava. Sie werden bestimmt ein tolles neues Schuljahr haben. Und was Mummy angeht, tja, anfangs kam sie, weil sie wusste, dass ich ihre Hilfe brauchte, und sie blieb, weil ich den Kühlschrank mit chinesischem Essen gefüllt habe, weil ich chinesisches Kabelfernsehen organisiert habe, weil ich ihr gesagt habe, sie könne ihre Freundinnen aus Richmond Hill einladen, um Mah-Jongg zu spielen, und weil ich sie fast jeden Abend zum Casino Rama gefahren habe, um Baccara zu spielen.
Das Cottage befand sich am Lake Couchiching, in der Nähe der Kleinstadt Orillia, ungefähr eine Autostunde von den nördlichen Ausläufern Torontos und nur fünfzehn Minuten von dem Casino entfernt. Ava hatte es im Internet entdeckt; sie war erstaunt, etwas zu finden, das ihr die Abgeschiedenheit bot, die sie sich wünschte, und sich dennoch in der Nähe guter Restaurants befand und der Dienstleistungen, die