In beiden Fällen besiegelten interne Konflikte den Untergang. Bei den Incas war es der Bruderkrieg, der ausbrach, als Huayna Cápac 1527 das Reich unter seinen beiden Söhnen Atahualpa und Huáscar aufteilte. Beide Brüder scharten die Volksgruppen ihrer verschiedenen Mütter und weitere Verbündete hinter sich und kämpften erbittert. Als 1532 Francisco Pizarro das Inca-Reich erreichte, war es bereits stark geschwächt und daher leichte Beute für die Invasoren. Den Niedergang von Nokia beschleunigte der Richtungsstreit in der Führungsetage unter Olli-Pekka Kallasvuo ab 2007, in dem Befürworter und Gegner einer Strategieänderung weg vom günstigen Handy und hin zum Smartphone sich gegenüberstanden. Und in beiden Fällen versanken die einst so mächtigen und scheinbar Unbesiegbaren innerhalb weniger Jahre in der Bedeutungslosigkeit: hier die »Könige der Anden«, dort die Herrscher des Handy-Marktes. Kann es sein, dass mit einem grandiosen Aufstieg unweigerlich jene Hybris geboren wird, die den späteren Absturz schon vorprogrammiert?
Rasante Gipfelstürmer, schockierende Abstürze
Die Beschäftigung mit den umsatzstärksten Unternehmen der Welt lehrt Demut. Die erste globale »Fortune 500«-Liste des US-Magazins Fortune erschien 1990, basierend auf den Umsatzdaten des Vorjahres. Vergleicht man die Top Ten dieser Aufstellung mit den Spitzenreitern der 2000 und 2015 veröffentlichten Listen, gewinnt man einen ersten Eindruck, wie fragil außergewöhnliche Unternehmenserfolge sind. Nach zehn Jahren finden sich nur noch fünf der ersten Spitzenreiter unter den Top Ten (farbig hinterlegt), nach weiteren 15 Jahren sind es noch drei der 1990 platzierten (farbig hinterlegt).
Abb. 1: Die Top 10 der »Fortune 500«-Listen 1990, 2000 und 2015
Die Liste bildet auch die tektonischen Verschiebungen der Weltwirtschaft ab: Wo noch 1990 die USA mit sechs Unternehmen dominierten, gefolgt von Japan mit zwei Organisationen, sind es 2015 noch ganze zwei US-Unternehmen und ein japanisches, dafür aber gleich drei aus der Volksrepublik China. Herausgefallen sind klangvolle Namen wie IBM (1990 das fünftgrößte Unternehmen der Welt; 2015 auf Rang 82) oder General Electric (2015 Rang 24). Der Spitzenreiter von 1990, General Motors, belegt 2015 Rang 21. Riesige Öl- und Gasproduzenten dominieren heute mit fünf der ersten sechs Plätze.
In der Welt der Wirtschaft gilt: Sicher ist, dass nichts sicher ist. Der Erfolg von gestern ist kein Garant für den Erfolg von morgen. Leider gerät das in guten Zeiten offenbar fast automatisch in Vergessenheit und kann zu waghalsigen Manövern verführen. So ist das Gastspiel des deutschen Autobauers Daimler in den Top Ten des Jahres 2000 der Fusion mit Chrysler zu verdanken, laut CEO Jürgen Schrempp damals eine »Hochzeit, die im Himmel geschlossen« wurde. Schrempps ehrgeiziges Ziel: die »Welt AG«, ungeachtet aller gängigen Erfahrungen mit der Schwierigkeit von Fusionen und ungeachtet der Skepsis der eigenen Händler. »Was wollen die bloß mit diesem amerikanischen Schrott«, zitiert die Süddeutsche Zeitung einen ratlosen Mercedes-Verkäufer. Er sollte recht behalten. 2009 endete die himmlische Ehe mit einer 40 Milliarden teuren Scheidung. Der Fall DaimlerChrysler ist ein Musterbeispiel für brachiale Egomanie eines Topmanagers und für eine verfehlte Merger-Strategie. Von diesen Fallstricken und der Schwierigkeit, ihnen auszuweichen, wird im achten Kapitel (»Ego schlägt Sache«) ausführlich die Rede sein. Denn vor »Ego-Tripping« ist kaum jemand gefeit, der es mit Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen bis an die Spitze geschafft hat. Die Frage ist: Wie gelingt die Gratwanderung zwischen Ehrgeiz und Egomanie, zwischen visionärer Kraft und Größenwahn? Wie verhindert man seine persönlichen »Indiana-Jones-Momente«?
Sie fragen sich, was dagegen sprechen könnte, dem beliebten Film-Abenteurer nachzueifern? Nun, nüchtern betrachtet ist der Archäologe Indiana Jones alles andere als ein Vorbild: Am Ende jeder seiner Reisen hat er zwar den begehrten Schatz gefunden, zugleich aber reihenweise zerstörte Tempel und Monumente hinterlassen. Wie der von Harrison Ford verkörperte Dr. Jones neigen auch viele Manager dazu, Eigeninteressen als Dienst am »großen Ganzen« zu verbrämen. So erweisen sie ihrem Unternehmen in Wahrheit einen Bärendienst. Wir wissen, wovon wir reden, und werden im letzten Kapitel von unseren persönlichen Indiana-Jones-Momenten berichten. Davor widmen wir uns im sechsten Kapitel der Frage, aus welchen weiteren Gründen zahlreiche Unternehmensfusionen ähnlich wie die von Daimler und Chrysler radikal scheitern und was moderne Unternehmensführer womöglich von den Incas und ihrer ausgeklügelten »Integrationspolitik« lernen können.
Zurück zu den Fortune 500. Die Automobilindustrie ist eine Branche, an der sich viele Abstiegsfallen illustrieren lassen. Dazu gehört das Thema Werte. Wie sich der Umsatz von Volkswagen, im Jahr 2015 Platz 8 der Fortune 500, angesichts des Abgasskandals entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Zumindest in den USA war der Absatz im Februar 2016 im Vergleich zum Vorjahresmonat um satte 13 Prozent zurückgegangen.5 In US-Werbespots hatte VW seine Dieselfahrzeuge als super sauber präsentiert: Eine ältere Dame hält bei laufendem Motor ein schneeweißes Tuch vor den Auspuff, und das Tuch bleibt blütenrein. Wer so offensichtlich Werte-Kulissen bewegt, wird abgestraft (unser Thema in Kapitel 4). Dass Werte mehr sind als Textbausteine für Neujahrsversammlungen und Kick-off-Meetings, illustriert auch die Führungskultur von Volkswagen, die der Spiegel einmal als »Nordkorea minus Arbeitslager« beschrieb.6 Wo alle vor dem Herrscher zittern, kann es den Kopf kosten, wenn man gesetzte Ziele zu den gesetzten Kosten nicht erreicht. Also wurde geschwiegen und getrickst, und der Konzern muss jetzt mit weitaus höheren Kosten für den daraus resultierenden Betrug rechnen. Fatalerweise setzte sich das Werte-Dilemma bei VW auch nach Entdeckung der »Schummel-Software« fort: So bestand das Topmanagement im Frühjahr 2016 auf Millionen-Boni, während Mitarbeiter längst um Arbeitsplätze bangten und Einschnitte hinnehmen mussten. Dabei zeichnet sich ab, dass immer häufiger Managementerfolge nachträglich neu bewertet und Forderungen nach Rückzahlung von Boni laut werden. Offenbar ist es schwierig, auf Top-Ebene die Bodenhaftung zu behalten, wenn einem kaum noch jemand unangenehme Wahrheiten sagt. Wie umgeht man diese Falle?
Darüber hinaus gibt es noch weitere Komponenten des Unternehmenserfolgs, die wir in diesem Buch auf den Prüfstand stellen: Wann gehen die gern pathetisch beschworenen Unternehmensvisionen nach hinten los (Kapitel 1)? Wieso gelang den Incas über viele Jahrzehnte, woran viele Unternehmen scheitern: tatsächlich die Talentiertesten mit Führung zu betrauen (Kapitel 2)? Was zeichnet glaubwürdige Führung aus (Kapitel 3)? Wie vermeidet man ruinöse Machtkämpfe, die nicht nur das Inca-Reich zu Fall brachten, sondern bis heute Unternehmen gefährden? Und wie bewahrt man nüchterne Urteilskraft angesichts der oft interessegeleiteten und daher tendenziösen »Briefings« anderer? Auch in diesem Punkt stimmt die Geschichte der Incas oder besser gesagt unser Blick auf diese nachdenklich: