Der Erfolg der Incas hielt so lange an, wie es ihnen gelang, innerhalb des komplexer werdenden Systems die Einzelinteressen der Mächtigen mit denen anderer Stakeholder auszugleichen und die zerstörerischen Energien, die von innen wirkten, zu domestizieren. Aber diese einem sorgsam austarierten Gleichgewicht der Kräfte entspringende Wachstumsenergie währte nicht ewig. Scheinbar kleine Veränderungen sorgten erst für Destabilisierung und leiteten dann den Untergang ein.
Ohne direkten Bezug zum Unternehmen erkennen wir einige Gesetzlichkeiten von Systemen, die offenbar über den Wandel der Jahrhunderte hinweg gelten: Jeder lange andauernde Erfolg birgt in sich schon den Keim des Scheiterns, weil die verantwortlichen Akteure zunehmend blind werden für neue, ungekannte Bedrohungen. Aufkommende neue Technologien können bewährtes Führungswissen innerhalb kurzer Zeit abwerten und die Schaffung neuen Führungswissens erforderlich machen. Überzogener Egoismus und Nepotismus der Gestalter bringen ein System in die Risikozone und beschleunigen den Niedergang. Der Abstand der Jahrhunderte schafft eine Klarheit, die es erlaubt, Parallelen zur Jetztzeit zu ziehen. Auch heute erleben wir radikale Umbrüche. Für die Incas waren die Reiterei und die Waffen der Spanier ungekannte, disruptiv wirkende Technologien – für uns sind es Digitalisierung und Roboterisierung. Für die Incas waren die Herrschafts- und Kriegstechniken der Spanier die große, Unsicherheit schaffende Veränderung – für uns sind es der Wegfall der Verlässlichkeit in der Politik und ein sich beschleunigender gesellschaftlicher Wertewandel im Kleinen und im Großen. Und: Menschen mit überzogenem Ego und unnötige Konflikte gibt es immer noch – gerade in der Wirtschaft.
Das vorliegende Buch sollte für jeden von uns Anlass sein, eine Standortbestimmung vorzunehmen. Wir sollten unsere Routinen überprüfen, Bewährtes nicht einfach weiter als Dauerlösung hinnehmen und unsere Wahrnehmung für die innerhalb und außerhalb des Systems wirkenden Kraftfelder schärfen. Nur dann wird es uns gelingen, die Dynamiken zu unseren Gunsten zu nutzen und aus den Veränderungen das zu formen, was wir alle brauchen: einen Aufbruch in ein neues Zeitalter.
Prof. Dr. Peter May
Bonn-Bad Godesberg, im Juni 2017
Eine Peru-Reise mit unerwarteten Folgen
Dies ist kein Buch über die Incas, aber ohne die Incas gäbe es dieses Buch nicht. Es begann ganz harmlos mit einer geschäftlichen Reise von Paul Williams nach Peru. Paul hatte sich im Vorfeld mit Lateinamerika-erfahrenen Freunden besprochen, die dringend rieten, doch mehr von der wunderbaren Kultur des Landes zu erleben als drei Tage Lima Hilton. Ihr Enthusiasmus hatte Folgen: An den Businesstermin schloss sich eine Peru-Reise von sieben Freunden aus vier Nationen an, an der auch Andreas Krebs teilnahm.
Wir waren durchaus vorbereitet auf die indigene Hochkultur des 15. und 16. Jahrhunderts. Doch was uns peruanische Führer auf 3500 Metern Höhe in einer atemberaubenden Landschaft dann erzählten, stimmte uns nachdenklich. In Tipón, einer früheren Agrar- und Forschungsstätte der Incas 30 Kilometer nordöstlich von Cusco, erfuhren wir genauer, wie die Incas in knapp 100 Jahren ein Imperium schufen, das sich fast 5000 Kilometer entlang der Anden vom heutigen Ecuador im Norden bis weit nach Chile hinein im Süden erstreckte. Wie sie dieses Reich mit 200 Ethnien effizient durchorganisierten und zusammenhielten. Wie sie durch kluge Anbautechniken Überschüsse erwirtschafteten, Vorratsspeicher bauten, für Kranke und Familien ohne Ernährer sorgten, und das in einer Zeit, in der in Europa Seuchen und Hungersnöte wüteten. Wie sie anderen Völkern ein Angebot zum »Friendly Takeover« machten und erst zu den Waffen griffen, wenn die Offerte ausgeschlagen wurde. Wie sie die Unterlegenen konsequent integrierten und besetzte Regionen durch Umsiedlung und Entwicklung der Infrastruktur befriedeten.
Eigentlich hatten wir auf dieser Reise Abstand zu unserem Tagesgeschäft als Manager, Aufsichtsräte, Investoren und Coachs gewinnen wollen. Doch plötzlich redeten wir ständig über Management – »Inca-Management«. Wie konnte es sein, dass die Incas, die weder über die Schrift verfügten noch das Rad nutzten (geschweige denn moderne Kommunikationstechnik), ein riesiges Imperium beherrschten, während zahlreiche Firmenzusammenschlüsse heute unter weitaus günstigeren Voraussetzungen scheitern? Wie schafften es die Incas, über viele Jahrzehnte eine akzeptierte Führungselite zu etablieren, während moderne Topmanager sich regelmäßig den Vorwurf der Egomanie und Abgehobenheit gefallen lassen müssen? Warum folgten zahlreiche Völker den »Kindern der Sonne«, während heutige Unternehmenslenker oft vergeblich versuchen, Firmenkonglomerate auf einen gemeinsamen Kurs einzuschwören?
Natürlich lassen sich die Methoden einer strikt hierarchischen Gesellschaft der frühen Neuzeit nicht eins zu eins in die Gegenwart übertragen. Doch eines machten unsere hitzigen Debatten deutlich: Die Incas halten uns einen Spiegel vor. Sie sind uns fremd – und doch verblüffend nah. Die Inca-Elite stand vor ähnlichen Herausforderungen wie Manager von heute: klare Ziele zu formulieren, andere davon zu überzeugen, in einem rauen Umfeld Veränderungen und Innovationen anzustoßen, unterschiedliche Gruppen zu einen, Vorhaben stringent umzusetzen.
Das ist es, worauf es jenseits aller Management-Moden und Buzzwords von »Diversity« bis »Disruption« bis heute ankommt. Genau darum dreht sich dieses Buch: Was ist wirklich entscheidend, wenn Führungskräfte Unternehmen oder Organisationen auf Erfolgskurs halten wollen? Die Incas dienen uns dabei als Initialzündung, treten dann aber in den Hintergrund. Stattdessen schöpfen wir aus unserer eigenen Unternehmenspraxis und aus dem, was uns Gesprächspartner – Topmanager aus unterschiedlichsten Kontexten vom internationalen Konzern über erfolgreiche Familienunternehmen bis hin zu Start-ups, Beratungsunternehmen, öffentlich-rechtlichen Organisationen und NGOs – mit auf dem Weg gaben (vgl. »Unsere Interviewpartner«). Wir danken allen Gesprächspartnern für ihre Offenheit. Einige besonders brisante Geschichten haben wir in Abstimmung mit ihnen anonymisiert.
Von einer unkritischen Verklärung der Incas sind wir weit entfernt. Denn auch das gab es: Deportationen ganzer Völker und Dörfer, Kinderopfer, eine rigide Reglementierung des Einzelnen, der weder Aufenthaltsort noch Beruf frei wählen konnte. Zudem ist nach knapp einem Jahrhundert grandioser Erfolge etwas ebenso grandios schiefgegangen. 1532 schlägt der spanische Eroberer Francisco Pizarro mit weniger als 200 Soldaten das 12 000 Köpfe zählende Heer der Incas und nimmt ihren Herrscher (den »Inca«) Atahualpa gefangen. Binnen weniger Jahre zerfällt das Inca-Reich, auch wenn der letzte Inca-König, ohnehin eine Marionette der spanischen Konquistadoren, erst 1572 hingerichtet wird. So findig, effizient und konsequent die Incas zuvor ihr Reich beherrschten, so hilflos erscheinen sie im Angesicht des neuen Gegners. Was uns zu der Frage führt, ob herausragende Erfolge zur Endlichkeit verdammt sind, ob jeder Triumph womöglich schon den Keim des Scheiterns in sich trägt.
Auch hier drängt sich die Gegenwart sofort ins Bild: Jeder Manager, jede Führungskraft kennt die Namen jener »Global Player«, scheinbar unangreifbarer Firmenimperien, die einen rasanten Niedergang erlebten oder sogar völlig in der Versenkung verschwunden sind: Kodak. Nokia. AOL. Pan Am. Arthur Andersen. Auch in Deutschland finden sich zahlreiche Beispiele, seien es Quelle, Grundig oder Schlecker. Nimmt man die jährliche Forbes-Liste der 500 umsatzstärksten Unternehmen weltweit zum Maßstab, so wird rasch deutlich: Kaum eine Organisation kann sich dauerhaft im Olymp der zehn wirtschaftlich erfolgreichsten Unternehmen halten. Möglicherweise ist es gerade die Illusion der Unbesiegbarkeit, die den manchmal rasanten Absturz vorprogrammiert. Für Führungskräfte und Manager bedeutet das, auch und gerade in Zeiten sicherer Erfolge wachsam zu bleiben, Schwachstellen zu prüfen und sich und das Unternehmen weiterzuentwickeln. Sonst geht es einem wie jenem deutschen Topmanager, der großspurig aus dem schwäbisch verwurzelten Daimler-Konzern eine »Welt AG« machen wollte, damit den Anfang vom Ende seiner Karriere einleitete