Lebendig!. Michael Herbst. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Herbst
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783775158800
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der Liebe, die ihn leitet. Das bewahrt vor Starrsinn und Rechthaberei. Um die Gesundheit solcher Glaubensprozesse zu prüfen, hilft es, zu fragen: Werde ich am Ende stärker in meiner Liebe und Beziehungsfähigkeit, zugewandt und dienstbereit, mitfühlend und respektvoll? Oder macht mich das alles eher überheblich, besserwisserisch, kalt und distanziert? In gesunden Gemeinden gibt es einen gesunden Ehrgeiz der Gemeinde und der einzelnen Christen, eine Art Koalition für das Erwachsenwerden im Glauben.

      Im Grunde brauchen wir also nicht nur »Kurse zum (Anfangen mit) Glauben«, sondern auch »Kurse (zum Wachsen) im Glauben«. Das Emmaus-Material, das an den Emmaus-Kurs anschließt, bietet dazu einiges.6 Gordon MacDonald, einer der Theologen, die mich im Blick auf die praktische Gestalt des Glaubens am meisten geprägt haben, hat mit seinem Buch »Tiefgänger«7 die Richtung gewiesen, in die wir mit unseren Gemeinden gehen sollten: ein strukturiertes, begrenztes, vielfältiges Programm für Menschen, die im Glauben weiterkommen wollen. Das ist nach meiner Kenntnis bisher in Deutschland kaum umgesetzt worden. Vielleicht bietet dieses Buch einige Hilfestellungen für Gemeinden, die mit ihren Gemeindegliedern erste Schritte in diese Richtung gehen wollen.

      Ich glaube, dass diese Frage auch über die Zukunft unserer Gemeinden und unserer Kirchen entscheidet. Vitale Gemeinden investieren in lebendiges, mündiges Christsein. Gerade im Umbau unserer Volkskirchen von kulturdominierenden Großkirchen zu öffentlichen, missionarischen Minderheitskirchen, in der Transformation von pfarrzentrierten Betreuungskirchen zu Kirchen des allgemeinen Priestertums ist dies eine der wichtigsten »Baustellen«. Vitale Gemeinden brauchen lebendige, mündige Christen.

      Christsein!

      Lebendig und mündig – so sei also unser Christsein. Und Christ ist, wer zu Christus gehört, wer ihn kennt und ihm vertraut. Doch es gibt eine gewisse Zurückhaltung in der von Martin Luther inspirierten Theologie gegenüber Begriffen wie »Wachstum« oder »Heiligung«. Luther lag an der Veränderung des Lebens, am Gehorsam gegenüber Gottes Geboten und an einer heilsamen Umgestaltung des Daseins unter der Regie Gottes. Aber er fürchtete eine Rückkehr in das unselige Streben, sich von der Gnade unabhängig zu wähnen und auf eigene Werke zu setzen. Er fürchtete beides: die Verzweiflung dessen, der an seinem Bemühen scheitert, wie die Arroganz dessen, der sich mit seinem Bemühen erfolgreich aus den Niederungen des Lebens aus Gnade allein »befreit«.

      Wir leben davon, dass Christus für uns gestorben und auferstanden ist. Wir leben von dem wunderbaren Tausch: Alle unsere Sünde liegt auf ihm, alle seine Gerechtigkeit liegt auf uns. Darüber müssen wir nie hinauskommen. Darüber können wir nie hinauskommen. Lebendig und mündig wird unser Christsein nicht durch allmählichen »Ausgang« aus der fröhlichen Abhängigkeit von Jesus Christus, sondern durch ein tieferes Hineinfinden in diese Abhängigkeit: allein Christus, allein die Schrift, allein die Gnade, allein der Glaube. Lebendiger und mündiger Glaube ist gerade nicht mit sich selbst beschäftigt, er sonnt sich nicht im eigenen Vorankommen und er grämt sich nicht wegen der eigenen »Abgründe«. Er übt täglich die Grundübung des Glaubens ein: den Blick wegzuheben von uns selbst und aufzuschauen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender unseres Glaubens (vgl. Hebräer 12, 1-3).

      Zum Schluss (oder besser: zum Anfang)

      Sie können die Kapitel in diesem Buch einfach der Reihe nach persönlich studieren. Sie können diese Texte aber auch zur Grundlage von Gesprächen in Ihren Hauskreisen und Mitarbeitendenteams machen. In den Anmerkungen finden Sie Hinweise auf einige Autoren und Prediger, die ähnlich wie Gordon MacDonald mein Nachdenken über lebendiges, mündiges Christsein gefördert haben, vor allem John Ortberg, aber auch Timothy Keller und Bill Hybels.

      Meine Hoffnung ist, dass die Lektüre Ihnen Freude bereitet und Ihnen hilft, lebendiges, mündiges Christsein zu (er)leben. Ganz praktisch danke ich denen, die sich dieses Manuskriptes angenommen haben: meinem studentischen Mitarbeiter Matthias Trumpp, Annalena Pabst vom SCM-Verlag und meiner Lektorin Christiane Kathmann. Mein Dank gilt abschließend den Gemeinschaften und Menschen, bei denen ich selbst lebendiges und mündiges Christsein kennenlernen und einüben konnte: dem CVJM in Bielefeld, der SMD-Gruppe in Erlangen, meinem Lehrer Manfred Seitz, der während der Arbeit an diesem Buch in hohem Alter verstorben ist, der Ev. Matthäus-Kirchengemeinde in Münster, der gesamten, insbesondere internationalen Arbeit von Willow Creek, vielen guten Impulsen aus der Bewegung der »fresh expressions of church« in England, insbesondere Bischof John Finney, der GreifBar-Gemeinde in Greifswald und meinem wunderbaren Team am Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung sowie last, but certainly not least meiner Frau Christiane, mit der ich diesen Weg im Glauben seit bald vierzig Jahren teilen darf.

      Weitenhagen, 1. Februar 2018

      Michael Herbst

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Erster Teil Die Grundlage von allem: Gnade

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      1. Was bedeutet es, ein Jünger oder eine Jüngerin von Jesus zu sein?

      Denken Sie einmal an Ihre Gemeinde. Was fällt Ihnen ein? Wie geht es Ihrer Gemeinde gerade? Ich muss oft darüber nachdenken, wie es um unsere Gemeinde steht. Und dann denke ich an viele schöne Erlebnisse, die Taufe von vier iranischen Flüchtlingen, manche Highlights bei GreifBar in der Stadthalle, wenn Kunst und Wort Gottes sich ganz nah kommen, viele Gottesdienste, bei denen der Klang der Lieder plötzlich sehr lebendig war oder bei denen beim Abendmahl plötzlich etwas wahrhaft Heiliges zu spüren war. Vor allem denke ich an Menschen, die in unserer Gemeinde zum Glauben gekommen sind und deren Leben sich verändert hat, ich denke an den Einsatz, den Menschen für unsere Gemeinde bringen. Ich denke aber auch an die Niederlagen, die wir erlitten haben, Menschen, die uns verlassen haben, Gäste, die nicht gekommen sind. Ich denke an Wunden, die mancher Konflikt geschlagen hat, an Schuld, auch eigene, an Schmerz. Und dann denke ich an offene Fragen: Wie es wohl weitergeht, ob es sich überhaupt noch lohnt, Herzblut, Lebenszeit, Geld und Gaben zu investieren. Wo wir zukünftig unsere Schwerpunkte setzen und welche Menschen wir neu gewinnen können. Wie wir aufs Neue Leidenschaft und Freude für das bekommen können, was wir zusammen tun.

      Schöne Erlebnisse, schmerzhafte Niederlagen und offene Fragen. Warum tun wir uns das eigentlich an? Warum tun wir, was wir tun? Warum tun wir es in den guten und den schlechten Tagen? Warum werden wir es auch in der Zukunft tun, unverdrossen, mit großem Einsatz und hoffentlich mit Leidenschaft und Freude? Warum gibt es unsere Gemeinde und wozu sind wir auf diesem Planeten?8 Was hat das mit mündigem Christsein zu tun?

      Das »Warum« der Gemeinde

      Jesus hat am Ende seiner Wanderung auf diesem Planeten noch einmal grundsätzlich geklärt, wozu es Gemeinde geben wird. Was hatte er im Sinn, als er so etwas wie »Gemeinde« ins Leben rief? In Matthäus 28, 16-20 kann man das nachlesen:

      Die elf Jünger gingen nach Galiläa. Sie stiegen auf den Berg, wohin Jesus sie bestellt hatte. Als sie Jesus sahen, fielen sie vor ihm nieder. Aber einige hatten auch Zweifel. Jesus kam zu ihnen und sagte: »Gott hat mir alle Macht gegeben, im Himmel und auf der Erde! Geht nun hin zu allen Völkern und macht die Menschen zu frommen Christen und Kirchenmitgliedern: Tauft sie im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes! Und lehrt sie, alles zu tun, was ich euch geboten habe. Und seht doch: Ich bin immer bei euch, jeden Tag, bis zum Ende der Welt!«

      Okay, das war nicht ganz richtig. Jesus hat nicht gesagt: Macht alle Menschen zu frommen Christen. Er hat sicher auch nicht gesagt: Macht alle Menschen zu Kirchenmitgliedern. Er hat gesagt: »Macht die Menschen zu meinen Jüngern und Jüngerinnen«, das heißt, zu lebendigen, mündigen Nachfolgern und Nachfolgerinnen von Jesus.

      Mitglied in einer Kirche oder Gemeinde zu sein, ist gut, aber es bedeutet noch lange nicht, in einer lebendigen, das ganze Leben prägenden Beziehung