Deutsches Leben der Gegenwart. Paul Bekker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paul Bekker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066118716
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es gibt sie uns!"

      Thomas Mann, dem Verfallsepiker des Bürgertums — eines patriarchalisch-aristokratischen Bürgertums — in der Grundstimmung verwandt ist der Verfallsepiker des Adels: Eduard Graf von Keyserling (1855-1918.). Wie Lübeck die bürgerlichen Lebensformen, so hat Kurland, Keyserlings Heimat, die Lebensformen des Adels am längsten und reinsten behauptet. Mehr als Keyserling vor dem grausigen Kriegsschicksal der baltischen Provinzen ahnen konnte, steht auch er am Ende einer Entwicklung, ein Zugehöriger und Außenseiter. In München erlebt der Alternde, kränklich, gelähmt, gekrümmt, zuletzt erblindet, vom Krankenstuhl und -bett aus die Welt seiner Väter und seiner Jugend wieder. Die tiefe Heimatliebe des Epikers und die melancholische, gütige Erkenntnis des Ausgehenden zeichnen die Menschen, die Schicksale, die Umwelt dieses östlichen Gutsadels in schmalen, erwählten, sicheren Linien, Er gibt keine breiten epischen Fresken, keine weiten Geschlechterfolgen wie die Buddenbrooks, er gibt in seinen Romanen "Beate und Mareile" "Dumala", "Wellen", "Abendliche Häuser", "Fürstinnen" fast novellistische Einzelbilder; sie schließen sich zu einem Gesamtbild von epischer Bedeutung. Die Darstellung ist von klarer Sichtbarkeit und Farbigkeit, aber durchzittert von der müden, melancholischen Seelenmusik Hermann Bangs, dem sie Tiefstes verdankt.

      Die Adelsgeschlechter Keyserlings haben längst nicht mehr die naiv-sicheren Lebensformen ihrer Väter, der "starken Leute, die das Leben und die Arbeit liebten, roh mit den Weibern und andächtig mit den Frauen umgingen und einen angeerbten Glauben und angeerbte Grundsätze hatten", die um ihre einmal gewählte Fahne die Hände schlossen: "Nun vorwärts in Gottes oder des Teufels Namen!" Ihr Leben ist in Wissen und Handeln zerfallen; sie haben die Relativität ihrer Lebensformen und -gesetze durchschaut. Die alten Ideale sind zersetzt, neue noch nicht geschaffen: "An meiner ganzen Generation ist etwas versäumt worden ", sagt von Egloff in den "Abendlichen Häusern", "unsere Väter waren kolossal gut, sie nahmen alles sehr ernst und andächtig. Es war wohl dein Vater, der gern von dem heiligen Beruf sprach, die Güter seiner Väter zu verwalten und zu erhalten. Na, wir konnten mit dieser Andacht nicht recht mit, nach einer neuen Andacht für uns sah man sich nicht um. Und so kam es denn, daß wir nichts so recht ernst nahmen, ja selbst die Väter nicht." Aber die adelige Gebundenheit ihres Blutes schreckt zurück vor dieser Willkür, die ihnen zuchtlos scheint, vor dieser Freiheit, die den Müden nicht zur schöpferischen Erneuerung dienen kann. Gegen ihre Hellsicht flüchten sie in die Tradition ihrer Väter zurück: "...Unsere Gesetze hier —" "Glauben Sie an diese Gesetze?" "Ich glaube nicht an sie, aber ich gehorche ihnen." Wie Thomas Buddenbrook werden sie zu den Helden und Schauspielern der alten Ideale.

      Je weniger sie ihnen innerlich eins sind, desto sorgsamer unterstellen sie sich ihnen. Haltung! Tenue! In allem inneren und äußeren Leben die Tradition wahren! Wohlgeordnet, festgefügt, bis in jede Tagesstunde bestimmt! "Du und ich sind zu gut erzogen, um in ein Drama zu passen."

      Aber an diese starre, unterhöhlte Konvention klopft das Leben. Die Natur, die aus der frühlingswilden, sommerschwülen Landschaft, den Wäldern und dem Meere, aus dem animalisch-vegetativen Leben der Gutsdörfer steigt, treibt in den jungen Komtessen, die, "kleine berauschte Gespenster, vor Verlangen zittern, draußen umzugehen, und wenn sie hinauskommen, nicht atmen können," treibt in den jungen Baronen, die das Erotische aus den schützenden Konventionen in die Kämpfe und Gefahren sinnlich-seelischer Abenteuer drängt. Keiner dringt durch zur Freiheit, sie fallen oder flüchten zurück. Das Leben wird zum Schatten und Traum: "Man lebt hier, als ob man gleich erwachen müßte, um dann erst mit der Wirklichkeit zu beginnen." "Eine dunkle Traurigkeit machte sie todmüde. All das still zu Ende gehende Leben um sie her schwächte auch ihr Blut, nahm ihr die Kraft, weiterzuleben; wir sitzen still und warten, bis eins nach dem anderen abbröckelt."

      Neben der adeligen und bürgerlichen wird die Zersetzung der bäuerlichen Formenwelt nur von der materiellen Seite episch bedeutsam gestaltet durch Wilhelm von Polenz' "Büttnerbauern" (1895) und Peter Roseggers "Jakob der Letzte". Diese äußere Not der bäuerlichen Welt ist durch die wirtschaftliche Entwicklung behoben, ihrer inneren Zersetzung, die da und dort merkbar wird (vgl. Josef Ruederers Komödie "Die Fahnenweihe", 1895), begegnet der lebendig nahe Zusammenhang mit der Natur, der Landschaft, den Jahreszeiten. Aus ihnen quellen jene Formenkräfte, die das bäuerliche Leben immer wieder von Grund aus aufbauen und erneuern, wie sie Knut Hamsun im größten modernen Bauernroman, einem wahrhaft altepischen Werke, dargestellt hat, im "Segen der Erde". Unseren Bauerndichtern ist die Strenge und Größe dieses Zusammenhanges kaum deutlich geworden. Ganghofer ist oberflächlich und sentimental, auch Rosegger ist in aller Volkstümlichkeit und Liebenswürdigkeit zu unproblematisch im tieferen Sinne — nur die "Schriften des Waldschulmeisters" und "Des Gottsucher" ragen hervor —, Gustav Frenssens einst so berühmte Romane ("Jörn Uhl", 1901) sind zwar voll landschaftlicher Stimmungskunst, aber in der Weltanschauung des liberalen protestantischen Pfarrers zwiespältig und verschwommen, in der Charakterisierung der Hauptpersonen romanhaft, in der Gesamtdarstellung lehr- und predigerhaft, ohne Kraft des Aufbaus, ohne Einheit der inneren Form. Erdkräftiger wurzeln Ludwig Thomas Bauernromane "Andreas Vöst" und "Der Wittiber", sie bleiben aber naturalistisch gebunden. Hermann Stehrs "Heiligenhof" fehlt zur grübelnden Mystik seiner Bauern die natürliche Fülle und plastische Kraft; er ist — wie alle Romane dieses Ringenden — mehr reflektiert als gewachsen.

      Über die zersetzten bürgerlichen und adeligen Formenwelten ist die Entwicklung der deutschen Kultur und Epik noch nicht zu neuen Lebensformen vorgedrungen. Die Großstädte sind ebenso formlos geblieben wie die Großstadtromane. Max Kretzers Berliner, Michael Georg Conrads Münchener Romane sind nichts als Stoff und Tendenz. Arthur Schnitzlers Versuch zu einem Wiener Roman großen Stiles, "Der Weg ins Freie", ist in der episch bedeutungslosen Umwelt des Literaten- und Judentums zergangen. Ein Arbeiterroman gleich der Bedeutung von Zolas "Germinal" ist uns nicht geworden. Die Welt der Arbeiter wird sich über Angriff und Verneinung, über die zerbröckelte, materialistische Weltanschauung des Marxismus erst zur eigenen Form durchringen müssen.

      Aus der modernen Frauenbewegung hat sich ein besonderer Frauenroman entwickelt. Als Mutter und Gattin ist das Weib der Urgrund der epischen Welt, aber die neue Zeit reißt zahllose Frauen aus dem Frieden der Familie und stößt sie in den Kampf des persönlichen Schicksals. Auch hier sind zersetzte Lebensformen zu überwinden und zu erneuern. Gabriele Reuters (geb. 1859) Romane, "Aus guter Familie" (1895), "Ellen von der Weiden", "Das Tränenhaus" zeugen davon, ohne die Überzeugung stets in Darstellung, die Tendenz in reine Menschlichkeit wandeln zu können. Auch Helene Böhlaus (geb. 1859) polemische Frauenromane, wie "Das Recht der Mutter" und "Halbtier", vermögen das nicht. Wo aber die reine Weiblichkeit ihrer lebensvollen Natur durchbricht, da wachsen aus der lichten Kindlichkeit ihrer Jugenderinnerungen die Weimarer "Ratsmädelgeschichten", aus der leidgeläuterten, warmen Mütterlichkeit ihrer Reife "Der Rangierbahnhof" (1895), der voll tiefster Güte, voll tragischer Schönheit ist.

      Klara Viebig (geb. 1860) steht den Problemen des eigentlichen Frauenromans fern; sie ist Naturalistin, die Schülerin Zolas. Elementare Triebe und Gestalten, Massenleidenschaften und Massenszenen sind ihr Feld. Die Eiffellandschaft mit ihren wortkargen, düsteren Menschen, die — einmal geweckt in ihren Leidenschaften — furchtbar ausbrechen, gibt ihr die besten ihrer Romane: "Das Weiberdorf", "Vom Müllerhannes", "Das Kreuz im Venn". Mit scharfer Beobachtung und sicherer Technik packt sie ihre Gestalten und Probleme von außen, mehr eine geschickte Schriftstellerin als formende Künstlerin.

      Weit über die Welt der Frauenromane, über die Welt selber hinaus führen die Romane Ricarda Huchs (geb. 1864). Ein durchaus romantisches Lebensgefühl, die Sehnsucht nach Unerreichbarem durchschimmert und durchglüht sie. Aber das Unerreichbare ist hier nicht das Unendliche, sondern das Leben, das in all seiner Schönheit, Kraft und Vollkommenheit doch ein unaufhaltsames, stetiges Vergehen ist. Obwohl alle wissen, wie traurig und flüchtig das Dasein ist, wie "es keinen Sinn hat, die Dinge so fest ans Herz zu schließen, die wir nach einem bangen Augenblick wieder wegwerfen müssen und nie mehr sehen", bleibt es doch aller "Bestimmung und Seligkeit, die himmelhohe Flamme des Lebens mit dem Strahl ihres Wesens zu nähren". "O Leben, o Schönheit!" singt es durch alle Dichtungen Ricarda Huchs. Die "schauerliche Wollust, in der träumerisch spülenden Lebensumflut mitzuströmen", ist die Inbrunst all ihrer Gestalten. "Nimm uns Tote wieder, o Leben," singen die Toten. Der Tod selber singt dem Leben ein Liebeslied.

      Eine romantische