Es ist wohl kein Zweifel, dass eines Tages neben der Psychologie des Traumes eine Psychopathologie des Traumes die Ärzte beschäftigen wird.
Besonders deutlich wird es häufig in Fällen von Genesung nach Geisteskrankheit, dass bei gesunder Funktion am Tage das Traumleben noch der Psychose angehören kann. Gregory soll auf dieses Vorkommen zuerst aufmerksam gemacht haben (nach Krauß, 1859). Macario (bei Tissié) erzählt von einem Maniacus, der eine Woche nach seiner völligen Herstellung in Träumen die Ideenflucht und die leidenschaftlichen Antriebe seiner Krankheit wieder erlebte.
Über die Veränderungen, welche das Traumleben bei dauernd Psychotischen erfährt, sind bis jetzt nur sehr wenige Untersuchungen angestellt worden. Dagegen hat die innere Verwandtschaft zwischen Traum und Geistesstörung, die sich in so weitgehender Übereinstimmung der Erscheinungen beider äußert, frühzeitig Beachtung gefunden. Nach Maury hat zuerst Cabanis in seinen Rapports du physique et du moral (1802) auf sie hingewiesen, nach ihm Lélut, J. Moreau (1855) und ganz besonders der Philosoph Maine de Biran. Sicherlich ist die Vergleichung noch älter. Radestock (1879) leitet das Kapitel, in dem er sie behandelt, mit einer Sammlung von Aussprüchen ein, welche Traum und Wahnsinn in Analogie bringen. Kant sagt an einer Stelle: »Der Verrückte ist ein Träumer im Wachen.« Krauß (1859): »Der Wahnsinn ist ein Traum innerhalb des Sinnenwachseins.« Schopenhauer nennt den Traum einen kurzen Wahnsinn und den Wahnsinn einen langen Traum. Hagen bezeichnet das Delirium als Traumleben, welches nicht durch Schlaf, sondern durch Krankheiten herbeigeführt ist. Wundt äußert in der Physiologischen Psychologie: »In der Tat können wir im Traum fast alle Erscheinungen, die uns in den Irrenhäusern begegnen, selber durchleben.«
Die einzelnen Übereinstimmungen, auf Grund deren eine solche Gleichstellung sich dem Urteil empfiehlt, zählt Spitta (1882) (übrigens sehr ähnlich wie Maury, 1853) in folgender Reihe auf: »1) Aufhebung oder doch Retardation des SelbstBewusstseins, infolgedessen Unkenntnis über den Zustand als solchen, also Unmöglichkeit des Erstaunens, Mangel des moralischen Bewusstseins, 2) Modifizierte Perzeption der Sinnesorgane, und zwar im Traum verminderte, im Wahnsinn im Allgemeinen sehr gesteigerte, 3) Verbindung der Vorstellungen untereinander lediglich nach den Gesetzen der Assoziation und Reproduktion, also automatische Reihenbildung, daher Unproportionalität der Verhältnisse zwischen den Vorstellungen (Übertreibungen, Phantasmen) und aus alledem resultierend: 4) Veränderung beziehungsweise Umkehrung der Persönlichkeit und zuweilen der Eigentümlichkeiten des Charakters (Perversitäten).«
Radestock fügt noch einige Züge hinzu, Analogien im Material (1879): »Im Gebiet des Gesichts- und Gehörsinnes und des Gemeingefühls findet man die meisten Halluzinationen und Illusionen. Die wenigsten Elemente liefern wie beim Traum der Geruch- und Geschmacksinn. – Dem Fieberkranken steigen in den Delirien wie dem Träumenden Erinnerungen aus langer Vergangenheit auf; was der Wachende und Gesunde vergessen zu haben schien, dessen erinnert sich der Schlafende und Kranke.« – Die Analogie von Traum und Psychose erhält erst dadurch ihren vollen Wert, dass sie sich wie eine Familienähnlichkeit in die feinere Mimik und bis auf einzelne Auffälligkeiten des Gesichtsausdruckes erstreckt.
»Dem von körperlichen und geistigen Leiden Gequälten gewährt der Traum, was die Wirklichkeit versagte: Wohlsein und Glück; so heben sich auch bei dem Geisteskranken die lichten Bilder von Glück, Größe, Erhabenheit und Reichtum. Der vermeintliche Besitz von Gütern und die imaginäre Erfüllung von Wünschen, deren Verweigerung oder Vernichtung eben einen psychischen Grund des Irreseins abgaben, machen häufig den Hauptinhalt des Deliriums aus. Die Frau, die ein teures Kind verloren, deliriert in Mutterfreuden, wer Vermögensverluste erlitten, hält sich für außerordentlich reich, das betrogene Mädchen sieht sich zärtlich geliebt.«
(Diese Stelle Radestocks ist die Abkürzung einer feinsinnigen Ausführung von Griesinger (1861, 106), die mit aller Klarheit die Wunscherfüllung als einen dem Traum und der Psychose gemeinsamen Charakter des Vorstellens enthüllt. Meine eigenen Untersuchungen haben mich gelehrt, dass hier der Schlüssel zu einer psychologischen Theorie des Traumes und der Psychosen zu finden ist.)
»Barocke Gedankenverbindungen und Schwäche des Urteils sind es, welche den Traum und den Wahnsinn hauptsächlich charakterisieren.« Die Überschätzung der eigenen geistigen Leistungen, die dem nüchternen Urteil als unsinnig erscheinen, findet sich hier wie dort; dem rapiden Vorstellungsverlauf des Traumes entspricht die Ideenflucht der Psychose. Bei beiden fehlt jedes Zeitmaß. Die Spaltung der Persönlichkeit im Traume, welche z. B. das eigene Wissen auf zwei Personen verteilt, von denen die fremde das eigene Ich im Traume korrigiert, ist völlig gleichwertig der bekannten Persönlichkeitsteilung bei halluzinatorischer Paranoia; auch der Träumer hört die eigenen Gedanken von fremden Stimmen vorgebracht. Selbst für die konstanten Wahnideen findet sich eine Analogie in den stereotyp wiederkehrenden pathologischen Träumen (rêve obsédant). – Nach der Genesung von einem Delirium sagen die Kranken nicht selten, dass ihnen die ganze Zeit ihrer Krankheit wie ein oft nicht unbehaglicher Traum erscheint, ja sie teilen uns mit, dass sie gelegentlich noch während der Krankheit geahnt haben, sie seien nur in einem Traume befangen, ganz wie es oft im Schlaftraum vorkommt.
Nach alledem ist es nicht zu verwundern, wenn Radestock seine wie vieler anderer Meinung in den Worten zusammenfasst, dass »der Wahnsinn, eine anormale krankhafte Erscheinung, als eine Steigerung des periodisch wiederkehrenden normalen Traumzustandes zu betrachten ist«. (S. 228.)
Noch inniger vielleicht, als es durch diese Analogie der sich äußernden Phänomene möglich ist, hat Krauß (1859) die Verwandtschaft von Traum und Wahnsinn in der Ätiologie (vielmehr: in den Erregungsquellen) begründen wollen. Das beiden gemeinschaftliche Grundelement ist nach ihm, wie wir gehört haben, die organisch bedingte Empfindung, die Leibreizsensation, das durch Beiträge von allen Organen her zustande gekommene Gemeingefühl (vgl. Peisse, bei Maury, 1878, 52).
Die nicht zu bestreitende, bis in charakteristische Einzelheiten reichende Übereinstimmung von Traum und Geistesstörung gehört zu den stärksten Stützen der medizinischen Theorie des Traumlebens, nach welcher sich der Traum als unnützer und störender Vorgang und als Ausdruck einer herabgesetzten Seelentätigkeit darstellt. Man wird indes nicht erwarten können, die endgültige Aufklärung über den Traum von den Seelenstörungen her zu empfangen, wo es allgemein bekannt ist, in welch unbefriedigendem Zustand unsere Einsicht in den Hergang der letzteren sich befindet. Wohl aber ist es wahrscheinlich, dass eine veränderte Auffassung des Traumes unsere Meinungen über den inneren Mechanismus der Geistesstörungen mitbeeinflussen muss, und so dürfen wir sagen, dass wir an der Aufklärung der Psychosen arbeiten, wenn wir uns bemühen, das Geheimnis des Traumes aufzuhellen.
Zusatz 1909
Es bedarf einer Rechtfertigung, dass ich die Literatur der Traumprobleme nicht auch über den Zeitabschnitt vom ersten Erscheinen bis zur zweiten Auflage dieses Buches fortgeführt habe. Dieselbe mag dem Leser wenig befriedigend erscheinen; ich bin nichtsdestoweniger durch sie bestimmt worden. Die Motive, die mich überhaupt zu einer Darstellung der Behandlung des Traumes in der Literatur veranlasst hatten, waren mit der vorstehenden Einleitung erschöpft; eine Fortsetzung dieser Arbeit hätte mich außerordentliche Bemühung gekostet und sehr wenig Nutzen oder Belehrung gebracht. Denn der in Rede stehende Zeitraum von neun Jahren hat weder an tatsächlichem Material noch an Gesichtspunkten für die Auffassung des Traumes Neues oder Wertvolles gebracht. Meine Arbeit ist in den meisten seither veröffentlichten Publikationen unerwähnt und unberücksichtigt geblieben; am wenigsten Beachtung hat sie natürlich bei den sogenannten »Traumforschern« gefunden, die von der dem wissenschaftlichen Menschen eigenen Abneigung, etwas Neues zu erlernen, hiermit ein glänzendes Beispiel gegeben haben, »Les savants ne sont pas curieux«, meint der Spötter Anatole France. Wenn es in der Wissenschaft ein Recht zur Revanche gibt, so wäre ich