Nun scheint es aber, dass niemand von sich selbst so recht sicher weiß, inwieweit er gut oder böse ist, und dass niemand die Erinnerung an eigene unmoralische Träume verleugnen kann. Denn über jenen Gegensatz in der Beurteilung der Traummoralität hinweg zeigen sich bei den Autoren beider Gruppen Bemühungen, die Herkunft der unsittlichen Träume aufzuklären, und es entwickelt sich ein neuer Gegensatz, je nachdem deren Ursprung in den Funktionen des psychischen Lebens oder in somatisch bedingten Beeinträchtigungen desselben gesucht wird. Die zwingende Gewalt der Tatsächlichkeit lässt dann Vertreter der Verantwortlichkeit wie der Unverantwortlichkeit des Traumlebens in der Anerkennung einer besonderen psychischen Quelle für die Immoralität der Träume zusammentreffen.
Alle die, welche die Sittlichkeit im Traume fortbestehen lassen, hüten sich doch davor, die volle Verantwortlichkeit für ihre Träume zu übernehmen. Haffner sagt (1887, 250): »Wir sind für Träume nicht verantwortlich, weil unserem Denken und Wollen die Basis entrückt ist, auf welcher unser Leben allein Wahrheit und Wirklichkeit hat… Es kann eben darum kein Traumwollen und Traumhandeln Tugend oder Sünde sein.« Doch ist der Mensch für den sündhaften Traum verantwortlich, sofern er ihn indirekt verursacht. Es erwächst für ihn die Pflicht, wie im Wachen, so ganz besonders vor dem Schlafengehen seine Seele sittlich zu reinigen.
Viel tiefer reicht die Analyse dieses Gemenges von Ablehnung und von Anerkennung der Verantwortlichkeit für den sittlichen Inhalt der Träume bei Hildebrandt. Nachdem er ausgeführt, dass die dramatische Darstellungsweise des Traumes, die Zusammendrängung der kompliziertesten Überlegungsvorgänge in das kleinste Zeiträumchen, und die auch von ihm zugestandene Entwertung und Vermengung der Vorstellungselemente im Traume gegen den unsittlichen Anschein der Träume in Abzug gebracht werden muss, gesteht er, dass es doch den ernstesten Bedenken unterliege, alle Verantwortung für Traumsünden und Schulden schlechthin zu leugnen.
(S. 49): »Wenn wir irgendeine ungerechte Anklage, namentlich eine solche, die sich auf unsere Absichten und Gesinnungen bezieht, recht entschieden zurückweisen wollen, so gebrauchen wir wohl die Redensart: Das sei uns nicht im Traume eingefallen. Damit sprechen wir allerdings einerseits aus, dass wir das Traumgebiet für das fernste und letzte halten, auf welchem wir für unsere Gedanken einzustehen hätten, weil dort diese Gedanken mit unserem wirklichen Wesen nur so lose und locker zusammenhängen, dass sie kaum noch als die Unsrigen betrachtet werden dürfen; aber indem wir eben auch auf diesem Gebiete das Vorhandensein solcher Gedanken ausdrücklich zu leugnen uns veranlasst fühlen, so geben wir doch indirekt damit zugleich zu, dass unsere Rechtfertigung nicht vollkommen sein würde, wenn sie nicht bis dort hinüber reichte. Und ich glaube, wir reden hier, wenn auch unbewusst, die Sprache der Wahrheit.«
(S. 51 ff.): »Es lässt sich nämlich keine Traumtat denken, deren erstes Motiv nicht irgendwie als Wunsch, Gelüste, Regung vorher durch die Seele des Wachenden gezogen wäre.« Von dieser ersten Regung müsse man sagen: Der Traum erfand es nicht – er bildete es nur nach und spann’s nur aus, er bearbeitete nur ein Quäntlein historischen Stoffes, das er bei uns vorgefunden hatte, in dramatischer Form; er setzte das Wort des Apostels in Szene: Wer seinen Bruder hasst, der ist ein Totschläger. Und während man das ganze, breit ausgeführte Gebilde des lasterhaften Traums nach dem Erwachen, seiner sittlichen Stärke bewusst, belächeln kann, so will jener ursprüngliche Bildungsstoff sich doch keine lächerliche Seite abgewinnen lassen. Man fühlt sich für die Verirrungen des Träumenden verantwortlich, nicht für die ganze Summe, aber doch für einen gewissen Prozentsatz. »Kurz, verstehen wir in diesem schwer anzufechtenden Sinne das Wort Christi: Aus dem Herzen kommen arge Gedanken – dann können wir auch kaum der Überzeugung uns erwehren, dass jede im Traum begangene Sünde ein dunkles Minimum wenigstens von Schuld mit sich führe.«
In den Keimen und Andeutungen böser Regungen; die als Versuchungsgedanken tagsüber durch unsere Seelen ziehen, findet also Hildebrandt die Quelle für die Immoralität der Träume, und er steht nicht an, diese immoralischen Elemente bei der sittlichen Wertschätzung der Persönlichkeit einzurechnen. Es sind dieselben Gedanken und die nämliche Schätzung derselben, welche, wie wir wissen, die Frommen und Heiligen zu allen Zeiten klagen ließ, sie seien arge Sünder. Es ist nicht ohne Interesse zu erfahren, wie sich die heilige Inquisition zu unserem Problem gestellt. Im Tractatus de Officio sanctissimae Inquisitionis des Thomas Careña, 1659, ist folgende Stelle: »Spricht jemand im Traum Ketzereien aus, so sollen die Inquisitoren daraus Anlass nehmen, seine Lebensführung zu untersuchen, denn im Schlafe pflegt das wiederzukommen, was unter Tags jemand beschäftigt hat.« (Dr. Ehniger, S. Urban, Schweiz.).
An dem allgemeinen Vorkommen dieser kontrastierenden Vorstellungen – bei den meisten Menschen und auch auf anderem als ethischem Gebiete – besteht wohl kein Zweifel. Die Beurteilung derselben ist gelegentlich eine minder ernsthafte gewesen. Bei Spitta findet sich folgende hierher gehörige Äußerung von A. Zeller (1818) zitiert (1882, 194): »So glücklich ist selten ein Geist organisiert, dass er zu allen Zeiten volle Macht besäße und nicht immer wieder nicht allein unwesentliche, sondern auch völlig fratzenhafte und widersinnige Vorstellungen den stetigen, klaren Gang seiner Gedanken unterbrächen, ja die größten Denker haben sich über dieses traumartige, neckende und peinliche Gesindel von Vorstellungen zu beklagen gehabt, da es ihre tiefsten Betrachtungen und ihre heiligste und ernsthafteste Gedankenarbeit stört.«
Ein helleres Licht fällt auf die psychologische Stellung dieser Kontrastgedanken aus einer weiteren Bemerkung von Hildebrandt, dass der Traum uns wohl bisweilen in Tiefen und Falten unseres Wesens blicken lasse, die uns im Zustand des Wachens meist verschlossen bleiben (1875, 55). Dieselbe Erkenntnis verrät Kant an einer Stelle der Anthropologie, wenn er meint, der Traum sei wohl dazu da, um uns die verborgenen Anlagen zu entdecken und uns zu offenbaren, nicht was wir sind, sondern was wir hätten werden können, wenn wir eine andere Erziehung gehabt hätten; Radestock (1879, 84) mit den Worten, dass der Traum uns oft nur offenbart, was wir uns nicht gestehen wollen, und dass wir ihn darum mit Unrecht einen Lügner und Betrüger schelten. J. E. Erdmann äußert: »Mir hat nie ein Traum offenbart, was von einem Menschen zu halten sei, allein was ich von ihm halte und wie ich hinsichtlich seiner gesinnt bin, das habe ich bereits einige Male aus einem Traume gelernt zu meiner eigenen großen Überraschung.« Und ähnlich meint I. H. Fichte (1864, Bd. 1): »Der Charakter unserer Träume bleibt ein weit treuerer Spiegel unserer Gesamtstimmung, als was wir davon durch die Selbstbeobachtung des Wachens erfahren.« Wir werden aufmerksam gemacht, dass das Auftauchen dieser unserem sittlichen Bewusstsein fremden Antriebe nur analog ist zu der uns bereits bekannten Verfügung des Traumes über anderes Vorstellungsmaterial, welches dem Wachen fehlt oder darin eine geringfügige Rolle spielt, durch Bemerkungen, wie die von Benini: »Certe nostre inclinazioni che si credevano soffocate e spente da un pezzo, si ridestano; passioni vecchie e sepolte rivivono; cose e persone a cui non pensiamo mai, ci vengono dinanzi« (1898, 149), und von Volkelt: »Auch Vorstellungen, die in das wache Bewusstsein fast unbeachtet eingegangen sind und von ihm vielleicht nie wieder der Vergessenheit entzogen würden, pflegen sehr häufig dem Traum ihre Anwesenheit in der Seele kundzutun« (1875, 105). Endlich ist es hier am Platze, uns zu erinnern, dass nach Schleiermacher schon das Einschlafen vom Hervortreten ungewollter Vorstellungen (Bilder) begleitet war.
Als »ungewollte Vorstellungen« dürfen wir nun dies ganze Vorstellungsmaterial zusammenfassen, dessen Vorkommen in den unmoralischen wie in den absurden Träumen unser Befremden erregt. Ein wichtiger Unterschied liegt nur darin, dass die ungewollten Vorstellungen auf sittlichem Gebiet den Gegensatz zu unserem sonstigen Empfinden erkennen lassen, während die anderen uns bloß fremdartig