FILM-KONZEPTE
Begründet von Thomas Koebner
Herausgegeben von Kristina Köhler, Fabienne Liptay und Jörg Schweinitz
Heft 59 · September 2020
Ulrich Seidl
Herausgeber: Corina Erk / Brad Prager
Print ISBN 978-3-96707-425-3
E-ISBN 978-3-96707-427-7
Umschlaggestaltung: Thomas Scheer
Umschlagabbildung: © Ulrich Seidl Filmproduktion
Soweit nicht anders angegeben, handelt es sich bei den Abbildungen aus den Filmen um Screenshots.
E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2020
Levelingstraße 6a, 81673 München
Inhalt
Corina Erk
Faction, Tableaus, Voyeurismus. Die Filme Ulrich Seidls – eine Werksichtung
Sandra Kristin Knocke
Wirklichkeit und Interpretation in Ulrich Seidls BILDER EINER AUSSTELLUNG und DER BUSENFREUND
Jörn Glasenapp Die Welt der Mode ist nicht schön. Ulrich Seidls MODELS
Fatima Naqvi Zum Fremdschämen. Ulrich Seidls Filmgrammatik
Brad Prager Real oder realistisch? Inszenierung und Bildkomposition in Ulrich Seidls PARADIES: LIEBE
Claudia Lillge Out of Austria. Sonne, Sand und Großwildjagd in Ulrich Seidls SAFARI
Biografie
Filmografie
Autor*innen
Corina Erk
Faction, Tableaus, Voyeurismus
Die Filme Ulrich Seidls – eine Werksichtung
I. Fragmentarische Blicke auf das Werk eines umstrittenen Regisseurs
Als einer der bekanntesten österreichischen Regisseure ist Ulrich Seidl, der mitunter als eine der »zentralen Gestalten des europäischen Autorenfilms«1 bezeichnet wird, wohl zugleich auch ein Filmemacher, dessen Werk2 die heftigsten Kontroversen ausgelöst hat. In den nunmehr 40 Jahren seines Schaffens, von denen er über 20 Jahre mit der Drehbuchautorin und Regisseurin Veronika Franz, seiner Partnerin, zusammengearbeitet hat, mit der gemeinsam er 2003 eine eigene Filmproduktionsfirma gründete, hat Seidl Kinoproduktionen ebenso vorgelegt wie Arbeiten für das Fernsehen, Kurzfilme, Fotobücher mit Standbildern aus seinen Filmen oder auch zwei Theaterstücke (Vater unser, 2004, Volksbühne Berlin; Böse Buben / Fiese Männer, 2012, Münchner Kammerspiele). Dabei ist bereits in seinem Frühwerk aus den 1980er Jahren vieles von dem angelegt, was auch später in seiner Karriere den Stil Seidls ausmacht: starre Kameraeinstellungen mit genau komponierter Kadrierung, Blicke der Personen direkt in die Kamera, die wiederum auf das Gegenüber fixiert zu sein scheint, Personenporträts von Außenseiterfiguren als Grundkonstellation des Gezeigten, das sich dem Hässlichen der Gesellschaft und den Abgründen des Menschen widmet, nicht selten grundiert mit einem erheblichen Maß an Provokationsgestus.
EINSVIERZIG markiert 1980 Seidls Erstling, ein Kurzfilm von 16 Minuten Länge, entstanden an der Wiener Filmakademie. Seidl zeigt darin Karl Wallner, einen kleinwüchsigen Mann mittleren Alters, der mit 14 Jahren aufgehört hat zu wachsen. So handelt es sich bei EINSVIERZIG – im Übrigen Seidls einzigem Schwarz-Weiß-Film – um das Porträt eines Kleinwüchsigen, der sich dem Publikum in Szenen aus seinem Alltagsleben präsentiert. Bereits dieser frühe Film brachte Seidl den im Zusammenhang mit seinem Werk seither immer wieder gehörten Vorwurf der Sozialpornografie ein. Man wird wohl nicht fehl darin gehen zu sagen, dass die schon in und mit EINSVIERZIG praktizierte Form der schonungslosen Darstellung der Menschen vor der Kamera zum Markenkern Seidls geworden ist, so dass EINSVIERZIG letztlich die »Rohform«3 des gesamten folgenden Werks genannt werden kann. 1982 folgte DER BALL (1982), ein 50-minütiger Dokumentarfilm, der in Horn, einer Kleinstadt in Niederösterreich, spielt, in der Seidl aufwuchs. Der Film zeigt Szenen des Schulballs der Gymnasiasten in der Faschingszeit in Form einer Provinzsatire. Bei DER BALL handelt es sich zugleich um Seidls letzten Film an der Filmakademie Wien, denn die angeblich rufschädigende Machart führte zur Demission des Jungregisseurs. Seidls erster Versuch, nach seinem Scheitern an der Filmakademie unabhängig Filme zu machen, blieb denn auch Fragment: LOOK 84 (1984), der keine Filmförderung aus öffentlichen Quellen erhielt und von dem lediglich 26 Minuten im Rohschnitt zu sehen sind, wobei rechtliche Gründe bis heute öffentliche Aufführungen verhindern, widmet sich am Beispiel von Sonja Kirchberger und dem Fotografen Peter Baumann Fotomodellen und der Verlogenheit des Werbegeschäfts – ein Thema, das Seidl später in MODELS (1998) wieder aufgegriffen hat. 1989 schließt KRIEG IN WIEN, eine Zusammenarbeit mit Michael Glawogger und zugleich dessen Abschlussarbeit an der Filmakademie, die Frühphase in Seidls Werk ab: Der Film zeigt Wiener Kleinbürger in ihren Wohnungen und betrunkene Obdachlose in den Straßen Wiens. In Form von Kontrastmontagen werden Ausschnitte aus den Weltnachrichten dokumentarischen Szenen aus dem Leben in Wien gegenübergestellt.
1990 verzeichnete Seidl mit seinem ersten Langfilm, GOOD NEWS: VON KOLPORTEUREN, TOTEN HUNDEN UND ANDEREN WIENERN, uraufgeführt auf dem Filmfestival Locarno, danach bei etlichen weiteren Festivals, darunter Chicago, Hof und Rotterdam, gezeigt und unter anderem mit dem Wiener Filmpreis ausgezeichnet, gleich einen ersten Erfolg. GOOD NEWS, der Seidl zum Durchbruch verhalf, zeigt den Tagesablauf von Zeitungsverkäufern auf den Straßen Wiens, Männern aus Ägypten, Indien, Pakistan und der Türkei, und kontrastiert das moderne Sklaventum dieser Sozialverlierer mit dem tristen Leben des Wiener Kleinbürgertums. Zugleich handelt es sich bei GOOD NEWS, fertiggestellt mit der Unterstützung Werner Herzogs, um ein Stadtporträt, um Stimmungsaufnahmen Wiens. In seiner Darstellung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der ausländischen Zeitungsverkäufer in Österreich wirkt GOOD NEWS geradezu journalistisch-reportageartig, wobei in diesem Porträt zugleich die Kunden eben jener Zeitungsverkäufer ins Visier genommen werden.4 Auch der nächste Seidl-Film, MIT VERLUST IST ZU RECHNEN (1992), uraufgeführt auf der Berlinale, beschäftigt sich mit dem Alltagsleben seiner Protagonisten und geht Beobachtungen in einer Grenzregion nach. MIT VERLUST IST ZU RECHNEN zeigt die Suche des Witwers Sepp Paur nach einer neuen Frau, und zwar in Tschechien, wo Paur auf die Witwe Paula Hutterová trifft, die allerdings weder ihre Unabhängigkeit aufgeben noch nach Deutschland umziehen will. Seidl fächert in diesem Film ein ganzes Themenspektrum auf: Verlust von Heimat, der eigenen Jugend und der Liebe, das Leben an der Ost-West-Grenze.