In Zusammenhang mit den recht salopp „Türkenbefreiungsfeiern“ – eigentlich war es das osmanische Heer unter der Leitung Kara Mustafas gewesen, das Wien belagert hatte, – rückte der Kahlenberg, Ort der Entsatzschlacht von 1683, bei dem die Osmanen geschlagen worden waren, in den Mittelpunkt. Beide Berge sind darüber hinaus auch dynastische Erinnerungsorte. Am Leopoldsberg befindet sich die landesfürstliche Burg der Babenberger, die als Herzöge Vorläufer der Habsburger und über Leopold III. den Heiligen mit der Gründungslegende des bedeutenden, nahe gelegenen Augustiner-Chorherrenstift Klosterneuburg verbunden waren. Im Stift befindet sich auch das Grab des Babenbergers. Die Kirchenstiftung Kaiser Leopolds I. von 1679 auf dem Leopoldsberg war der habsburgische Eintrag in die Memorialtopografie des Ortes. Hier (und nicht auf dem heutigen Kahlenberg) hat der Kapuzinerpater Marco d’Aviano die berühmte Messe vor der Entsatzschlacht gelesen,99 bei der der polnische König ministriert haben soll. D’Aviano befand sich den ganzen Tag vor Ort, gehört daher auch zum Personal des austrofaschistischen Türkenbefreiungskults und erhielt bald ein eigenes Denkmal, wie auch Kahlenberg und Leopoldsberg durch die Errichtung der Höhenstraße durch das Regime gewürdigt werden sollten. – Der heutige Kahlenberg wurde von Kaiser Ferdinand III., einem der Protagonisten der Gegenreformation in Österreich, mit einem Kamaldulenserkloster bestiftet, an dessen Kirche St. Josef sich zahlreiche Bezüge zu den Ereignissen von 1683 finden. Alljährlich werden dort bis heute polnische Gedenkfeiern zu den Jahrestagen der Schlacht abgehalten.
Neben der Nutzung ideologisch genehmer und vorteilhafter Erinnerungsorte sollte das Regime in der Folge eine teilweise radikale, teilweise erstaunlich halbherzig gedachte „damnatio memoriae“ an den symbolhaften Orten seiner politischen Gegner durchführen. Mangels entsprechender Manifestationen der Nationalsozialisten betraf das ausschließlich sozialdemokratische Orte und Erinnerungsmale. Diese Aktionen konnten allerdings erst nach dem Verbot der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) infolge der Ereignisse des Februar 1934 beziehungsweise nach der Erlassung der neuen Verfassung am 1. Mai 1934 durchgeführt werden.100
Abbildung 10: Bundeskanzler Engelbert Dollfuß (ÖNB/Fenichel)
Anlässlich der Feierlichkeiten zum Katholikentag 1933 traten einige der neuen Protagonisten des politischen Diskurses öffentlichkeitswirksam in den Vordergrund.
Zu Bundeskanzler Dollfuß (Abbildung 10) und der bereits zu seinen Lebzeiten initiierten, nach seiner Ermordung durch die Nationalsozialisten beim Juliputsch 1934 kulminierenden Mythisierung hat zuletzt Lucile Dreidemy ausführlich gearbeitet.101
Hier soll nur zusammenfassend festgehalten werden, dass in der Person Dollfuß nahezu alle vom Regime gewollten symbolischen, historischen und ideologischen Bezüge zusammenliefen: Dollfuß, ein Bauernsohn aus Niederösterreich, galt als „Sohn der Scholle“, kaisertreuer Soldat (er hatte im Ersten Weltkrieg gekämpft und hielt die programmatische Trabrennplatzrede in der Uniform der Kaiserjäger) und „Führer mit menschlichem Antlitz“; er wurde als volksnaher, sympathischer und tiefgläubiger pater familias präsentiert, und im Verhältnis zur politischen „Schutzmacht“ (und zum austrofaschistischen Vorbild) Italien wurde sein Verhältnis zum Diktator Mussolini als freundschaftlich dargestellt. Überhaupt basierte das zeitgenössische Dollfußbild im Gegensatz zur (Selbst-)Darstellung Hitlers oder Mussolinis „viel weniger auf Furcht als auf Identifikation und Sympathie“: Der „kleine Kanzler“ (Dollfuß war nur 1,53 Meter groß, ein Umstand, den die Hagiografie auszunützen verstand) konnte nach einem missglückten Attentat am 4. Oktober 1933 auf den Titelbildern der Illustrierten als Genesender im Pyjama am Krankenbett abgebildet werden.102 Ebenso wie fast alle Repräsentanten der austrofaschistischen Eliten, vor allem der katholischakademischen,103 war Dollfuß über seine Mitgliedschaft im Cartellverband (CV) exzellent vernetzt. Vom Bundespräsidenten abwärts waren 16 Regierungsmitglieder beim CV, dazu 30 Prozent der Mitglieder des Staatsrats, 35 Prozent des Bundeskulturrats und 72 Prozent des Länderrats. Auch in Kultur, Kirche und Medien war der CV sehr präsent; Mitglieder waren zum Beispiel Friedrich Funder, der Chefredakteur der einflussreichen „Reichspost“, aber auch der „inoffizielle Kulturminister“ Clemens Holzmeister.104
Der Wiener Kardinal Theodor Innitzer (Abbildung 11) war ein weiterer wichtiger Protagonist, der als ranghöchster Vertreter der Kirche vor Ort so gut wie alle offiziellen Gelegenheiten für Weihen, Messen, Eröffnungen, Prozessionen etc. wahrnehmen sollte.
Abbildung 11: Kardinal Theodor Innitzer (Moderne Welt 12 (1933), 7; ANNO/ÖNB)
Nach Dollfuß’ Ermordung unterstützte Innitzer dessen profane und sakrale Verehrung, die in Junktimierung mit der Christkönigsideologie in eine umfassende Sakralisierung des „Helden- und Märtyrerkanzlers“ in Zusammenhang mit dessen Namenspatron, dem hl. Engelbert, münden sollte.105 Führende Rollen nahm der Kardinal bei Weihezeremonien der zahlreichen neuen Kirchenbauten ein, ebenso bei den vom Regime neu belebten und sorgfältig inszenierten Fronleichnamsprozessionen, bei der sich die politischen und kirchlichen Eliten im öffentlichen Raum Wiens im Rahmen des traditionellen kirchlichen Festes alljährlich wieder präsentierten. Fronleichnam, als Gegenbild zu den sozialdemokratischen Umzügen und als Manifestation des christlichsozialen „Christus regnat“ von Künstlern inszeniert und ausgestattet, sollte barocke Festkultur und politische Manifestation mit kirchlicher Legitimation verbinden.106 Kurz nach dem „Anschluss“ Österreichs an Hitlerdeutschland sollte Innitzer eilig die Seiten wechseln: Anlässlich einer Volksabstimmung über den Verbleib Österreichs im Deutschen Reich forderte er mit seinen Bischöfen nicht nur alle Christen auf, für den Verbleib bei Deutschland zu stimmen, er unterzeichnete die entsprechende Erklärung der Bischöfe auch noch handschriftlich mit dem Hitlergruß.107
Für die zentrale Regie des Katholikentags verantwortlich war dessen Präsident, der Architekt Clemens Holzmeister (1886–1983) (Abbildung 12), der hier erstmals jene politische Bühne betrat, auf der er die folgenden Jahre hindurch in beispielloser Weise reüssieren sollte. Der Tiroler Holzmeister hatte an der Wiener Technischen Hochschule bei Karl König und Max Ferstel studiert und war mit dem Wiener Krematorium (erbaut 1921–1924), einem Symbolbau der Sozialdemokratie, bekannt geworden. Holzmeister war auch Akademieprofessor in Wien und Düsseldorf und von 1932 bis 1936 Vorsitzender der Zentralvereinigung der Architekten Österreichs.108 Ab 1927 fungierte Holzmeister zusätzlich als Regierungsarchitekt der Türkei unter Kemal Atatürk; er plante unter anderem das Regierungsviertel von Ankara.109 Später sollte Holzmeister in Österreich auch politische Ämter und Leitungsfunktionen akkumulieren; er war ab 1934 Leiter des Arbeitskreises „Bildende Kunst“ in der Einheitspartei Vaterländische Front, von Juni bis Oktober 1934 Rat der Bürgerschaft der Stadt Wien und von 1934 bis 1938 Staatsrat. Der Multifunktionär Holzmeister war seit seiner Studienzeit gut vernetzt: Als Mitglied der Verbindung Norica und dank der starken politischen Stellung des Cartellverbands, der in großer Mehrzahl hinter Bundeskanzler Dollfuß stand und dessen Mitglieder in Kirche, Staat und Medien den Großteil der Funktionäre stellten,110 war Holzmeister „allen Würdenträgern des Staates“ per Du-Wort verbunden.111 Holzmeisters erfolgreiche Tätigkeit für die sozialdemokratische Gemeinde Wien scheint ihm im Austrofaschismus nicht geschadet zu haben; der Kritik am Entwurf des Gebäudes für die damals von der Kirche verbotene Feuerbestattung entzog er sich durch die Einholung eines theologischen Gutachtens.112
Abbildung