Auch der Bezug zur Türkenbefreiung war traditionell am Stephansdom vorhanden. Der Südturm, dessen monumentale Silhouette auch für sich allein bis heute den Dom symbolisiert, hatte bis ins 19. Jahrhundert mehrere Bekrönungen, deren Inschriften – in Nachfolge des legendären „Mondscheins“, einer Kugel mit Halbmond und Stern – Bezug auf die Türkenbefreiung nahmen.65
Anlässlich des Katholikentags druckte die „Reichspost“ am 8. September 1933 auf ihrer Titelseite zum Auftakt des Katholikentags das 1884 am Stephansdom angebrachte Türkenbefreiungsdenkmal von Edmund Hellmer ab (Abbildung 8): Es zeigt eine Mondsichelmadonna, eine gegenreformatorische Ikonografie der Muttergottes, flankiert von Kaiser Leopold I. und Papst Innozenz XI. und brachte damit den Bezugsrahmen der Themen Habsburg/Kirche/Türkenabwehr neuerlich zu Bewusstsein.
Abbildung 8: Titelblatt der „Reichspost“ zum Katholikentag 1933
Ein weiterer wichtiger Bezugsort des Austrofaschismus war die Karlskirche, wo am Abend des 9. September 1933 die Eröffnung des Katholikentags stattfand. Die Karlskirche, „heiliger Tempelbezirk katholischen Glaubens und österreichischer Vergangenheit,“66 eine Stiftung Kaiser Karls VI. zum Ende der Pest und seinem Namenspatron St. Karl Borromäus, einem bedeutenden Heiligen der Gegenreformation, geweiht, bot als traditionell akklamierter Höhepunkt habsburgischer barocker Baukunst den idealen ideologischen und szenischen Hintergrund für den Auftakt. Zwischen den beiden antikisierenden Triumphsäulen der Fassade war ein kolossales Kreuz angebracht, vor dem die Ansprachen gehalten wurden (Abbildung 7).
Vor der Karlskirche wurde ein abendliches Spektakel inszeniert, bei dem eine plötzliche Beleuchtung des Kreuzes für Effekte sorgte.67 Der Kardinal rief die Vertreter „der einzelnen deutschen Stämme und Länder“ auf, die mit vorbereiteten Texten antworteten. Zahlreiche deutsche Katholikinnen und Katholiken waren der Veranstaltung allerdings wegen der von Hitler im Mai 1933 verhängten Tausend-Mark-Sperre, die eine Schwächung der österreichischen Wirtschaft zum Ziel hatte, ferngeblieben.
Betont wurde im Zusammenhang des gesamtdeutschen Katholikentags „Österreichs katholische und deutsche Sendung,“68 die auf eine Identitätsbildung von Österreich als zweiter, „besserer“ deutscher Nation abzielte, natürlich in Abgrenzung zum deutschen Nationalsozialismus, aber auch mit Bezug auf die katholisch-habsburgische Vergangenheit, wobei der „Rettung des christlichen Abendlandes“ in Zusammenhang mit dem Türkensieg 1683 eine besondere Bedeutung zugemessen wurde, konnte man doch das Zusammenwirken katholischer Fürsten unter habsburgischer Führung als Argument für einen Primat Österreichs nutzen. Nicht umsonst titelte die „Reichspost“ dazu: „Reichstag Gottes in Wien.“69
Im Zentrum der Veranstaltung stand die „Eucharistische Prozession der Männer und Jungmänner“ am Abend des 9. September, die vom Stephansdom über die Kärntner Straße und die Ringstraße zur Votivkirche geführt wurde.70 Die Veranstaltung fand, wie so oft im Austrofaschismus (aber nicht nur dort), abends statt, um die Dunkelheit für szenische Lichteffekte zu nutzen.
Die Votivkirche, anlässlich der Rettung Kaiser Franz Josephs 1853 vor einem Attentat errichtet, aus Spenden aus der ganzen Monarchie finanziert und ursprünglich als „österreichisches Pantheon“ intendiert, war ein weiterer wichtiger habsburgischer Erinnerungsort und bis 1918 die Garnisonkirche des österreichisch-ungarischen Militärs. Als Denkmal des Heeres stand sie für dessen historische Funktion beim Entsatz von Wien, aber auch für die Exekutive als Stütze des austrofaschistischen Regimes. Außerdem befindet sich in der Votivkirche das Grabmal von Niklas Graf Salm, eines Befehlshabers während der Ersten Wiener Türkenbelagerung 1529.71
Der Architekt Ceno Kosak, ein Schüler von Clemens Holzmeister, inszenierte eine „abendliche Kerzenprozession, an der keine einzige Frau teilnehmen wird“ – ein Vorgeschmack auf die bald folgende Zurückdrängung von Frauen ins Private.72 – Seine Befassung als Künstler begründete Kosak mit der Notwendigkeit, „dem gemeinsamen Willen der Masse einen klaren, überzeugten und symbolischen Ausdruck zu geben.“ Für Aufstellung und Durchführung zeichnete General Wiesinger verantwortlich; die dezidiert militärische Struktur und Organisation der späteren austrofaschistischen Aufmärsche wurde hier präfiguriert. Den Anfang bildete eine Gruppe von 120 fahnentragenden Reitern in altchristlichen Gewändern (Abbildung 6) sowie eine Gruppe von Posaunenträgern. Es folgte – hinter einem vier Meter hohen Kreuz – eine ebenfalls kreuzförmig angeordnete Formation von Klerikern im vollen Ornat, im Zentrum der Kardinal mit dem Allerheiligsten unter dem Himmel. Dahinter kamen Regierung, Militär, Vereine und Verbindungen – Pfadfinder, Studenten, Soldaten, katholische Jugend usw. Den Abschluss bildete die „gleichförmige Gruppe der Lichtund Fahnenträger.“73 Die kirchliche Manifestation wurde durch die Präsenz von Regierung und Funktionären politisch aufgeladen und durch die Präsenz Gottes im Allerheiligsten legitimiert. Optische und akustische Effekte wie Orgelklang und Scheinwerferlicht wurden zur Dramatisierung und Effektsteigerung benützt.74 Auch Manifestationen des NS-Regimes wurden gerne in der Dämmerung oder in der Dunkelheit veranstaltet, um Lichtspektakel zu inszenieren, durchaus auch mit sakral-visionären Untertönen.75
Ein Novum in der Festkultur war die beschriebene mittelalterlich-frühchristlich kostümierte Gruppe, denn für das Mittelalter als Bezugsepoche gab es in Wien nur wenige Vorbilder. Die traditionelle Wiener Identifikationsepoche war das Barock mit seinen spektakulären Kirchen, Schlössern und Palais und mit historischen Persönlichkeiten wie Prinz Eugen von Savoyen, einem weiteren „Türkenbezwinger“, und Kaiserin Maria Theresia. Bezugnahmen auf das Mittelalter gab es zuvor vereinzelt mit Hans Makarts Festzügen in der Gründerzeit, politisch aufgeladen allerdings erst im Zeitalter des von den Austrofaschisten als Vorgänger und Vorbild verehrten christlichsozialen Bürgermeisters Lueger: Damals wurde versucht, ein – entgegen der historischen Wahrheit – friedliches, ständisch organisiertes wienerisches Mittelalterverständnis zu propagieren, charakterisiert von bürgerlichem Wohlstand und von der Abwesenheit sozialer Konflikte.76 Der Rückgriff auf vorindustrielle, ständische Gesellschaftsformen, wie sie der auch sonst fortschrittsfeindliche Austrofaschismus wollte, war damals bereits von christlichen Sozialreformern wie Karl von Vogelsang propagiert worden.77 Holzmeister verfügte bereits über Erfahrungen mit der Mittelalterrezeption in der Festkultur: Seit 1911 war er als Leiter der Bauberatungsstelle des Vereins „Deutsche Heimat“ für die Förderung bodenständigen Bauens zuständig. Der Verein war 1905 gegründet worden, um die „Liebe zur Heimat und zum angestammten Volke“ zu fördern, aber auch, um zur „wirtschaftlichen Hebung“ der österreichischen Provinz beizutragen.78 Zu diesem Zweck organisierte der Verein – neben Vorträgen, „vaterländischen Abenden“, Schulungen und Beratungen – zahlreiche lokaler Feste, die auf regionale Besonderheiten und historische Ereignisse hinweisen und gut erhaltene Altstadtkerne präsentieren sollten. Beliebt war unter anderem das oft wiederholte und in mittelalterlichen Kostümen durchgeführte „Veilchenfest“79 auf dem Wiener Kahlenberg.
Das im Festzug evozierte Frühchristentum hatte bis dahin im Wiener beziehungsweise österreichischen Identifikationsnarrativ völlig gefehlt. Es fand seinen Eingang in Ceno Kosaks Inszenierung wohl über eine ganz andere Quelle, nämlich die katholische Liturgiereform-Bewegung, die sich – besonders in den Schriften ihres Protagonisten Johannes von Acken – ausführlich mit frühchristlicher Liturgie und den entsprechenden Bauformen beschäftigt hat und die in der Rückkehr zu diesen Wurzeln wichtige Erneuerungsmöglichkeiten für den Katholizismus und seinen Kirchenbau sah. Dieser Einfluss – er wird weiter unten näher thematisiert – wurde durch Clemens Holzmeister und Robert Kramreiter eingebracht, die zuvor