»Geht's dir gut? Du wirkst in letzter Zeit so geknickt«, erkundigt sich Nash.
»Ja, bin wohl gerade nur in so einer komischen Stimmung. Das wird wieder.«
»Du weißt, dass ich immer da bin, falls du reden willst. Das sind wir alle. Wir sind eine Familie, richtig?«
»Auf jeden Fall«, stimme ich zu und ziehe Nash kurz an mich. Nach fünf Jahren im Heathens Ink kann ich immer noch nicht glauben, wie viel Glück ich habe, diese Männer – und Dani – in meinem Leben zu haben.
Das Schicksal hat mir in diesem Leben mehr als einmal übel mitgespielt, aber es hat alles richtig gemacht, als es mich ins Heathens geschickt hat.
Kapitel 2
Wyatt
Mit einem Getränkehalter aus Pappe in einer Hand, öffne ich mit meinem Sicherheitsausweis die Tür, um ins Rainbow House zu gelangen. Eine friedliche Stille begrüßt mich und ich lächle. Ich liebe diese Zeit am Morgen, kurz bevor die Bewohner aufwachen.
Ich schalte das Flurlicht an und gehe zu den Büros, wo ich mit Sicherheit schon jemanden vorfinden werde. Auch zur unchristlichen Zeit von sechs Uhr morgens.
»Du siehst nach gestern Abend gar nicht schlecht aus«, sage ich, als ich Becks Büro betrete und seinen großen Soja-Latte auf den Tisch stelle.
Beck sieht von seinem Computer auf, seine Lippen sind zartrot geschminkt und seine Wimpern unendlich lang.
»Das liegt am Concealer, Süßer. Der kann selbst den entsetzlichsten Kater verbergen«, erklärt Beck grinsend und nimmt seinen Kaffee. »Danke. Ich hatte heute Morgen keine Zeit, mir was zu holen und weiß den Kaffee sehr zu schätzen.«
»Jederzeit. Du hattest noch nicht die Möglichkeit, mit Liam zu sprechen, oder? Er hat es letzte Nacht ziemlich krachen lassen.« Ich gebe mein Bestes, lässig zu klingen, nehme mein eigenes Getränk aus dem Halter, trinke einen großen Schluck und verbrenne mir den Mund. Allerdings lenkt es mich effektiv davon ab, wie mein Körper in den letzten Monaten auf Liam reagiert hat.
»Hab ich Liam nach seinem 21. Geburtstag vor sechs Uhr morgens angerufen?« Beck hebt eine seiner perfekt gezupften Augenbrauen. »Nein, das kann ich nicht behaupten.«
»Gutes Argument.« Ich lache leise. Wow, das mit dem lässig hab ich wirklich drauf.
»Warum interessiert dich das überhaupt?«
Verdammt.
»Wir sind Freunde, das weißt du doch.«
»Mhm.« Beck grinst und ich frage mich, ob er mich durchschaut. Falls ja, kann er mir vielleicht erklären, was gerade in meinem verwirrten Kopf vorgeht.
Ich habe vor drei Jahren angefangen, ehrenamtlich im Rainbow House zu arbeiten. Liam habe ich während meiner ersten Woche kennengelernt. Damals war er 18 und wir haben uns schnell bei schlechten Fernsehsendungen und zu viel Kaffee angefreundet. Er hatte gerade seine Oberkörperoperation hinter sich und war kein großer Fan des Therapeuten, zu dem er ging, also habe ich ihm meinen Freund Alex empfohlen, der selbst trans ist und sich darauf spezialisiert hat, anderen Transmenschen zu helfen.
Ich habe erlebt, wie sich Liam von einem unbeholfenen Teenager zu einem selbstbewussten Mann entwickelt hat und ich bewundere ihn wahnsinnig. Aber seit etwa einem Monat fühlt sich etwas zwischen uns anders an. Es ist eine neue Energie, die ich nicht mal annähernd beschreiben oder verstehen kann.
»Ich bringe Mary besser ihren Kaffee, bevor er kalt wird.«
Beck legt den Kopf schräg und hebt seinen Becher, um sich noch einmal zu bedanken, ehe ich in das Büro neben seinem gehe. Mary ist so munter wie immer und begrüßt mich mit einer mütterlichen Umarmung, bevor sie ihren Kaffee nimmt und an mir vorbeihuscht, um in der Küche das Frühstück für die vielen Teenager vorzubereiten, die bald aufstehen werden.
Als ich auf dem College meinen Abschluss in Psychologie achte, habe ich davon geträumt, an einem Ort wie dem Rainbow House zu arbeiten. Es ist genau der Ort, von dem ich mir gewünscht hätte, ich hätte ihn zu meiner Teenagerzeit gekannt, als ich in einer homophoben Kleinstadt mitten im Nirgendwo in Utah aufgewachsen bin.
Wie ich in Seattle gelandet bin… Ich nenne es Zufall. Mein bester Freund Jace besteht gern darauf, dass es Schicksal war. Ich bin nicht sicher, wie weit das Schicksal damit zu tun hatte, dass mir nach dem Abschluss eine anständige Position in einem Therapiezentrum angeboten wurde. Das war vor sieben Jahren und seitdem habe ich hier ein Zuhause gefunden – Freunde, mittlerweile habe ich eine eigene Praxis und den Großteil meiner Freizeit verbringe ich mit der ehrenamtlichen Arbeit im Rainbow House. Es ist ein verdammt gutes Leben, wenn auch etwas einsam, wenn ich nachts in mein leeres Bett krieche.
Ich gehe in mein eigenes Büro, fahre den Computer hoch und nehme noch einen großen Schluck von meinem Kaffee.
Ein paar Stunden bin ich damit beschäftigt, Akten zu schreiben und nach meinen Patienten zu sehen, bis mein Magen am späten Vormittag zu grummeln beginnt.
Ich stehe auf und strecke stöhnend die Arme. Scheiße, ich werde alt. Okay, 31 ist nicht so alt, aber ich fühle mich uralt. Noch ein Grund mehr, warum sich die Schmetterlinge in Bezug auf Liam beruhigen sollten. Er ist zehn Jahre jünger als ich und noch immer in der Phase seines Lebens, in der er mit verschiedenen Menschen ausgehen sollte. Ich hingegen bleibe nachts wach und träume von jemandem, mit dem ich sesshaft werden kann. Das ist eine schlechte Kombination und dabei bleibt es.
Das heißt natürlich nicht, dass ich ihm nicht schreiben und mich nach ihm erkundigen kann. Er ist immer noch einer meiner engsten Freunde.
Wyatt: Wie fühlst du dich?
Liam: Tot. Ich werde nie wieder so viel trinken. Man sollte meinen, ich wüsste es mittlerweile besser.
Wyatt: Mittlerweile? Warum? Du bist gerade erst 21 geworden. Willst du andeuten, dass du *keuch* schon Alkohol getrunken hast, bevor du es legal durftest?
Liam antwortet mit einem Emoji mit schrägen Augen, die, glaube ich, ein Augenverdrehen darstellen sollen und gefolgt von einem mit einem Heiligenschein. Ich lache leise und die Schmetterlinge machen wieder diese verrückte Sache.
Wyatt: Ich muss was essen; hast du Zeit, dich mit mir im Deli zu treffen?
Liam: Ja, ich hab um zwölf einen Termin mit Owen für ein neues Tattoo. Abgesehen davon hab ich Zeit. Ich dachte mir, dass es besser ist, keine Kunden für einen Fototermin für den Tag nach meinem 21. Geburtstag anzunehmen.
Wyatt: Gut mitgedacht. Treffen wir uns in fünfzehn Minuten?
Liam: Cool.
Ich fahre den Computer herunter, lege meine Akten in den abschließbaren Schrank und mache mich lächelnd auf den Weg.
Liam wartet schon auf mich, als ich das Deli erreiche. Ich bemerke ihn, bevor er mich entdeckt und ich starre ihn ein paar Sekunden an, während er sich mit den Händen durch seine hellbraunen Haare fährt und dem Kerl hinter der Theke flirtende Blicke zuwirft. Der Mann erwidert sein Lächeln und mustert Liams schlanken Körper bewundernd.
Ein Teil von mir möchte zu ihnen marschieren, sich vor Liam stellen und diesen Deli-Typen – sein Name ist Tom, so gern ich auch kleinlich sein und so tun möchte, als wüsste ich das nicht, kann ich es einfach nicht – davon abhalten Liam anzusehen. Aber der andere Teil von mir strahlt, weil Liam flirtet und lächelt. Ich habe ihn gedrängt, sich zu öffnen und es mit Dating zu versuchen und ich habe kein Recht, jetzt sauer zu sein, weil es so aussieht, als würde er meinem Vorschlag folgen.
Liams Blick wandert in meine Richtung und er winkt mich zu sich. Die Begeisterung in seinem Lächeln wärmt mich bis tief in mein Inneres.
»Du siehst etwas mitgenommen aus, nachdem du gestern getrunken hast, alter Mann«, neckt mich Liam, als ich mich neben ihn stelle.
»Erinner mich nicht an mein fortgeschrittenes Alter«, sage ich trocken.