Kamilla spürte seinen Blick auf ihr. Sie schaute auf ihre Hände, die zitterten und eiskalt waren. Sechsundfünfzig. Sie hatte nie über das Alter ihrer Mutter nachgedacht, sie hatte immer alt ausgesehen. Aber sie war tatsächlich erst neunzehn gewesen, als sie selbst auf die Welt kam.
»Ich kann nur wiederholen, das Beste, was wir für sie tun können, ist, sie schmerzfrei zu halten.«
»Sie wissen am besten, was zu tun ist«, murmelte sie und wollte einfach nur so schnell wie möglich raus aus dem Büro. Raus aus dem Krankenhaus.
Der Chefarzt erhob sich und steckte den Kugelschreiber in die Brusttasche.
»Sie dürfen natürlich gerne bleiben, aber leider ist keine Besserung in Sicht. Wir können anrufen, wenn ...« Er ließ den Satz in der Luft hängen.
Sie stand auf und schüttelte seine entgegengestreckte Hand; sie war weich und warm, aber der Händedruck war schwach, und er zog seine Hand schnell wieder zurück, als ob er nicht mit irgendetwas angesteckt werden wollte. Er folgte ihr zur Tür.
»Es tut mir sehr leid, dass wir nicht mehr tun können«, sagte er hinter ihr, als sie auf den Krankenhausflur trat. Die Absätze der Stiefel auf dem Boden hallten von den kahlen Wänden wieder.
Sie ging zurück in das Einzelzimmer. Ihre Mutter lag noch genauso da wie vorher. Ihre Atmung war ruhig und gleichmäßig, als ob sie schliefe. Kamilla zog ihren Mantel an, beugte sich übers Bett und gab ihr einen Kuss auf die warme Stirn. Das Morphium lief langsam durch einen Schlauch neben ihr.
Die Tränen kamen im Auto auf dem Nachhauseweg, aber sie wusste nicht, warum. Es fühlte sich nicht an wie Trauer, sondern wie Hoffnungslosigkeit.
Es war angenehm, den vertrauten Geruch im Haus wahrzunehmen, als sie aufschloss und in die Wärme trat. Der Duft ihres eigenen Hauses und nicht die gemischten Krankenhausgerüche von weiß Gott was. Sie streifte den Mantel ab und warf ihn oben auf die Garderobenhaken. Im Kühlschrank fand sie ein paar kalte Reste von gestern, die sie aß, während sie den Anrufbeantworter abhörte und nach dem Frühstück ein bisschen aufräumte. Das Gefühl der Hoffnungslosigkeit hatte sich wie eine Zecke festgebissen.
Sie war lange nicht dort gewesen, aber nun öffnete sie die Tür zu Rasmus’ Zimmer und ging vorsichtig hinein, ohne Licht anzumachen, als ob er in seinem Bett liegen und schlafen würde und sie ihn nicht wecken wollte. Die Tür knarrte leicht, wie damals schon. Sie konnte immer hören, wenn er nachts rausschlich, um auf die Toilette zu gehen oder sich in der Küche ein Glas Wasser zu holen. Das Zimmer war nun ausgeräumt. Majken hatte ihr dabei geholfen. Genau genommen war sie es gewesen, die gesagt hatte, dass es nun sein sollte. Das Einzige, was noch dastand, war ein Fußballpokal, der vom Staub matt war, und ein Silberrahmen mit dem letzten Foto, das von ihm gemacht worden war. Sie erschrak vor ihrem eigenen Spiegelbild in der Fensterscheibe – wie eine andere Person, die draußen allein in der Kälte und Dunkelheit stand und zusammensank. Ganz allein – wie sie selbst. Sollte ihre Mutter jetzt auch sterben? Falls sie es tat, war niemand mehr da, obwohl sie so gesehen physisch nie da gewesen war. Natürlich gab es irgendwo noch Familie. Zahlreiche Familienmitglieder. Aber sie kannte sie nicht, hatte nie von ihnen gehört. Oma, Opa, Tanten, Onkel – und wer da sonst noch gewesen war. Zum Teufel mit ihr und ihrem Egoismus, dachte sie. Jetzt brauchte sie die wirklich.
Mit ihren Ärmeln wischte sie den Staub von dem Pokal. Das Datum kam zum Vorschein. 7. August 2003. Sie sah Rasmus vor sich – sieben Jahre alt, in seinem gestreiften Fußballtrikot und viel zu großen Shorts, voller Eifer, ein richtiges Spiel zu spielen und versessen darauf, zu gewinnen. Sie hatte ihn und seine Mannschaftskameraden zu dem Spiel gefahren. Hinten auf dem Rücksitz hatten sie wie Brian Laudrup und Ulrik Wilbek geklungen. Mit einem kleinen Lächeln hatte sie sie im Rückspiegel im Auge behalten. Auf dem Platz hatten sie wie Profis gespielt. Sich in simulierten Krämpfen im Gras gewälzt, bis sie gegen das Schienbein getreten wurden, wie sie es im Fernsehen gesehen hatten. Und natürlich wollte die Begeisterung kein Ende nehmen, als sie den Pokal gewannen. Das Einzige, was die Freude ein bisschen getrübt hatte, war, dass sein Vater nicht aufgetaucht war. Er rief abends an, aber das war nicht das Gleiche. Er hatte Rasmus an diesem Tag gefehlt. Auch an diesem Tag. Sie stellte den Pokal zurück aufs Regal und schloss die Tür hinter sich.
Tarzan schlief auf der Bettdecke im Schlafzimmer. Sie legte sich neben ihn und schnupperte an dem warmen Fell, das ein bisschen nach ihrem eigenen Parfüm roch. Sofort startete der kleine, knirschende Motor in seinem Bauch. Er streckte sich mit Wohlbehagen und drehte den Kopf in eine einschmeichelnde Position, Schnauze und Schnurrhaare in der Luft. Sie brachte es nicht übers Herz, ihn zu verjagen, um ins Bett zu kommen, und kraulte ihm den Bauch, während sie dem beruhigenden Schnurren lauschte und in die Dunkelheit starrte.
Sie musste eingeschlafen sein und wachte davon auf, dass die Katze weg war. Ihr warmes Kissen war verschwunden, und sie fror. Sie hatte mithilfe des Nachbarn eine Katzenklappe in die Tür der Waschküche gemacht, damit Tarzan kommen und gehen konnte, wann er wollte. Ein Nachttier war natürlich jetzt aktiv. Sie wurde zugunsten einer Maus verlassen.
Langsam zog sie ihre Schlafsachen an, hatte nicht mehr die Energie für ein Bad und der Schlaf übermannte sie, sobald ihr Kopf das Kissen berührte.
Die Nachricht kam am nächsten Morgen in Form eines Anrufs, der sie früh am Morgen nach einem tiefen und traumlosen Schlaf jäh wachrüttelte.
»Ihre Mutter ist leider im Laufe der Nacht eingeschlafen, still und friedlich.«
Der Krampf im Magen nahm ihr die Luft. Sie lief ins Badezimmer und übergab sich in die Toilette.
13
Anne hatte ihren Rucksack startklar gemacht und sah auf die Uhr.
»Verdammt, wo bleiben die?«, fragte sie leicht verärgert.
Mads Dam sah von der Tastatur auf und lehnte sich mit einem kleinen, erfreuten Lächeln zurück, während er sie betrachtete.
»Warum schwirrst du nicht einfach ab? Du willst ihn doch eh nicht dabei haben, oder?«
»Nein, Herrgott noch mal! Aber mein Fotograf muss einfach mit.«
»Kamilla! Ist ihre Mutter nicht heute Nacht gestorben? Sie kommt dann wohl nicht zur Arbeit, wenn ...«
Er kam nicht dazu, mehr zu sagen. Die Tür ging auf, und Kamilla kam außer Atem mit der großen Kameratasche über der Schulter rein. »Entschuldigt die Verspätung. Mir ging’s heute Morgen nicht so gut. Ich hab Nicolaj unterwegs eingesammelt.«
Nicolaj drückte sich mit vom Wind zerzausten Haaren an Kamilla vorbei. »Mein Fahrrad hatte einen Platten, so ein Mist, sonst hätte ich ...«
Anne, die überhaupt keine Lust hatte zu hören, was Nicolaj mit seinem Fahrrad vorhatte, sah Kamilla ernst an und unterbrach ihn. »Das mit deiner Mutter tut mir leid, Kamilla. Warum bist du heute nicht zu Hause geblieben? Alle hätten Verständnis dafür gehabt.«
»Denk nicht mal daran. Mir geht es besser dabei, mir etwas vorzunehmen, als einfach nur zu Hause zu sitzen. So viel habe ich schon gelernt. Wo ist Britt? Und ist Thygesen immer noch krank?«
Anne nickte und erklärte, dass Britt an Stelle von Thygesen in der Stadt bei einem Meeting war. Sie sah unruhig zu Mads, der aufstand und Kamilla die Hand entgegenstreckte. Als er auftauchte, war deutlich, dass er einen Kater hatte, daher konnte man nie sagen, was er von sich geben würde.
»Mir tut das mit deiner Mutter auch leid«, meinte er. »Ich habe auch keine Eltern mehr, das ist echt unschön, wenn man der Nächste ist, der auf der Liste steht ...« Er lächelte verlegen und setzte sich schnell wieder. Kamilla bedankte sich und nahm die Tasche auf.
»Sollten wir nicht mal zusehen, dass wir loskommen?«
Annes Auto war in der Werkstatt, es würde ungefähr eine Woche dauern, bevor es wieder fahrtüchtig war nach dem kleinen Unfall,