Und genau das tat er jetzt. »Daß du mich auch einmal in meinem Reich aufsuchst, das freut mich«, flüsterte er an ihrem Ohr. »Hat diese Überraschung ernste Hintergründe?«
»Ja und nein«, gestand Denise und schmiegte sich an ihn. Sie war ein ganzes Stück kleiner als er.
»Also, dann zuerst einmal das Nein.« Zärtlich gab er ihr einen Kuß auf die Wange.
»Lieber erst das Ja«, unterbrach Denise seine stürmische Umarmung. »Ich hatte so schreckliches Sehnsucht nach dir, daß ich es in Sophienlust nicht mehr ausgehalten habe. Ich mußte einfach kommen.«
»Nun rück schon heraus mit der Sprache, Schatz. Das muß doch einen Grund haben.«
»Hat es auch«, gestand die schöne Frau und setzte sich in den weichen Sessel, der für Besucher am anderen Ende des altdeutschen Schreibtisches bereitstand.
Als Alexander von Schoenecker sich ebenfalls wieder gesetzt hatte, begann Denise, ihm die tragische Geschichte des kleinen Ulli und seines Vaters zu erzählen.
»Dr. Bertsch hat zwar heute gesagt, daß es Herrn Meinradt schon bedeutend besser ginge, körperlich, aber sein Seelenzustand ist äußerst bedenklich. Er spricht nicht und zeigt auch sonst kaum eine Reaktion. Die Ärzte haben schon Angst, daß vielleicht durch die Gehirnerschütterung irgendein Schaden zurückgeblieben ist, was ja durchaus möglich wäre.«
»Du solltest nicht immer das Schlimmste annehmen, Denise«, widersprach Alexander liebevoll. »Immerhin hat dieser Mann viel mitgemacht! Der grauenvolle Unfall, diese schweren Verletzungen und dann noch der Tod seiner Frau und des ungeborenen Kindes. Das ist ein bißchen viel auf einmal für einen einzelnen Menschen, findest du nicht auch?«
»Ja, du hast recht«, mußte Denise zugeben, »aber daß seine Frau tot ist, das weiß er noch gar nicht.«
Alexander fuhr mit den langen, feinfühligen Fingern durch sein dichtes Haar, das schon von einzelnen grauen Fäden durchzogen war. »Ach so, das wußte ich nicht. Und Dr. Bertsch kann sich sein seltsames Verhalten auch nicht erklären, wenn ich dich recht verstanden habe.«
»Genau. Also ich mache mir ernstlich Sorgen um ihn. Außerdem fragt Ulli fast täglich, wann sein Vati einmal zu Besuch nach Sophienlust kommt. Ich glaube, er vermißt ihn sehr.«
»Das ist doch nur natürlich. Vielleicht solltest du selbst einmal nach dem Rechten sehen. Wenn es deine Zeit erlaubt, dann kannst du Herrn…« Für einen Augenblick hatte er den Namen vergessen.
»Herrn Meinradt«, half ihm seine Frau lächelnd weiter.
»Ja. Also, dann kannst du Herrn Meinradt im Krankenhaus besuchen. Dann weißt du ganz genau, wie es ihm geht.«
»Keine schlechte Idee, mein lieber Alexander. Ich wußte doch, daß du meine üble Laune wieder aufpolieren kannst. Vorhin, als ich so allein in meinem Büro saß, da dachte ich plötzlich, die Decke fiele mir auf den Kopf. Die Luft wurde immer dicker, so daß ich das Gefühl hatte zu ersticken, weil mir dieses Problem unlösbar erschienen ist.«
»Und jetzt ist dir hoffentlich wohler.« Alexander faßte über den Schreibtisch hinweg nach der Hand seiner Frau.
»Bedeutend wohler«, gestand sie lächelnd und legte seine Hand an ihre Wange, wobei sie sich weit nach vorne beugen mußte.
*
Die letzten beiden Wochen waren für Schwester Mandy wie ein Alptraum gewesen, aus dem es kein Erwachen gab. Täglich begegnete sie im Krankenhaus ihrem ehemaligen Verlobten Gerd Schönau, der nichts unversucht ließ, um sie zurückzugewinnen.
Aber die Krankenschwester blieb hart. Die Entscheidung war ihr nicht leichtgefallen, aber jetzt gab es daran nichts mehr zu rütteln.
Die junge Frau straffte ihre Schultern und lief eilig den langen Gang entlang. Sie mußte noch rasch das Einzelzimmer richten, denn in etwa einer Stunde wurde Klaus Meinradt von der Intensivstation gebracht.
Sie hatte den jungen Mann, dem es noch immer ziemlich schlechtging, einige Male besucht, was von ihm jedoch nicht bemerkt worden war.
Mit raschen, geübten Handgriffen bezog sie das Bett mit frischer, schneeweißer Bettwäsche und schüttelte dann noch einmal die Kissen auf. Dann rollte sie das Bett hinaus, weil es anderswo gebraucht wurde.
Seltsam leer kam ihr das kleine Krankenzimmer vor, als sie sich umschaute. Aber eine geheime Freude erfüllte sie, wenn sie daran dachte, daß sie bald den Mann würde pflegen dürfen, an den sie seit dem Tag auf der Intensivstation so oft denken mußte.
Es war nicht nur sein schweres Schicksal, das sie berührte. Gabriele, ihre Freundin von der Intensivstation, hatte sie einmal lächelnd gefragt, ob sie Gerd deshalb den Laufpaß gegeben habe, weil ihr ein anderer Mann besser gefiele.
Das war damals natürlich nicht der Fall, trotzdem mußte Mandy vor sich selber zugeben, daß Klaus Meinradt mehr Eindruck auf sie gemacht hatte, als ihr lieb war.
Doch die Verlegung des Patienten verlief ganz anders, als von Schwester Mandy erwartet. Schwester Olga, die Stationsschwester, nahm den Patienten in Empfang, und sie, Mandy, sah nur von weitem zu.
Aber sie tröstete sich mit dem Gedanken, daß ja noch viele Tage und Wochen vor ihr lagen, wo sie ihm das Frühstück, das Mittagessen und das Abendessen bringen konnte.
Klaus Meinradt ließ die Prozedur des Umzugs klaglos über sich ergehen. Ihm war alles egal, denn noch immer lähmte der Schock des Unfalls seine Gedanken und Gefühle. Nur an Iris mußte er immer denken und an das Kind. Hoffentlich war dem Baby nichts geschehen. Aber an diese Hoffnung konnte er sich nicht so richtig klammern, weil er wußte, wie unsinnig sie war.
Wie wohl seine Frau den Verlust ihres Kindes aufgenommen hatte? Sicher war sie ebenfalls ans Bett gefesselt, denn sonst hätte sie ihn schon einmal besucht.
Das waren die einzigen Gedanken, die den Mann beschäftigten. Auch an Ulli dachte er voller Sehnsucht, aber er wagte niemanden nach seinem Sohn zu fragen, als lauter Angst vor der Antwort.
So lag der verletzte Versicherungskaufmann reglos in seinem Bett und starrte an die hohe weiße Decke. Er aß kaum etwas, sprach fast überhaupt nichts, nur wenn er gefragt wurde. Und dann gab er meist nur kurze, einsilbige Antworten.
Zuerst war Mandy enttäuscht von seinem Verhalten, aber dann siegte doch ihr gesunder Menschenverstand. Dieser Mann hatte Schreckliches durchgemacht. Sie würde viel Geduld und viel Einfühlungsvermögen aufbringen müssen, wenn sie sich mit ihm verständigen wollte.
Aber diese Eigenschaften besaß Amanda Veil. Unermüdlich sorgte sie für ihn und schaffte es trotzdem, die anderen Patienten nicht zu vernachlässigen. Ihre Kolleginnen ließen sie gewähren. Es wurde zwar darüber geredet, daß sich die junge Frau so auffallend um den Neuzugang kümmerte, aber niemand sagte ein böses Wort gegen sie.
Und einige Tage später konnte Mandy den ersten Erfolg verbuchen. Klaus Meinradt nahm sie wahr, als der Mensch, der ihn versorgte.
»Wie heißen Sie?« fragte er schwach und drehte seinen Kopf zur Seite. Er mußte es ganz langsam tun, weil er seinen Körper nicht bewegen durfte. So wenig wie möglich sollte er sich in seinem Spezialbett auf die Seite drehen.
»Ich bin Schwester Mandy«, antwortete die junge Frau betont fröhlich. »Endlich nehmen Sie wieder Ihre Umwelt wahr. Das ist schon ein großer Fortschritt.«
Klaus Meinradt lächelte gequält. »Ja«, sagte er nur leise, während sein Blick über die schlanke Gestalt der hübschen Krankenschwester wanderte. »Möchten Sie etwas trinken? Ich habe gerade frischen Malventee aufgebrüht.«
»Danke, ja«, war die kurze, ziemlich gleichgültige Antwort, aber für Mandy war es der langersehnte Hoffnungsschimmer. Leichtfüßig lief sie aus dem Zimmer zu der kleinen Stationsküche und schenkte eine Tasse Tee ein. Das tiefrote Getränk verbreitete in dem Krankenzimmer einen aromatischen Duft.
»So,